Ökonomien der Angst

Dienstag
12.10.2010
22:00

Die Furcht vor wirtschaftlichem Abstieg gehört zu den dominierendsten Ängsten der Gegenwart. Die jahrzehntelang andauernde Massenarbeitslosigkeit in den reichen westlichen Gesellschaften hat die Menschen zutiefst verunsichert. Vom Wohlstandsversprechen für alle der 1950er, 60er und 70er Jahre ist nicht viel übrig geblieben. Dabei scheint für die Menschen weniger das Geld selbst im Vordergrund der Sorgen zu stehen: Arbeitslosigkeit ist mit einer tiefgreifenden sozialen Abwertung verbunden, die Menschen fühlen sich nutz- und wertlos. Die Politik, die seit Jahren vergeblich mit kosmetischen Programmen gegen Massenarbeitslosigkeit ankämpft, versucht regelmäßig von ihrem eigenen Versagen abzulenken, indem sie behauptet, Arbeitslose seien zu faul zum Arbeiten, was das Selbstbewusstsein der ohnehin schon Gekränkten endgültig zerstört. Besonders perfide ist zudem, dass die ökonomische Gefährdung kaum wahrnehmbar daherkommt. Die „unsichtbare Hand“ (Adam Smith) des Marktes kann ziemlich überraschend zuschlagen: Branchen, Finanzsysteme, Staaten, nichts scheint vor einer plötzlichen Krise und folgenden Kettenreaktionen gefeit. Der Arbeitnehmer, der im Laufe solcher Desaster die Kündigung erhält, hat kaum Möglichkeiten, sich darauf vorzubereiten oder sich dagegen zu wehren. Die „unsichtbare Hand“ mag auch ein Grund dafür sein, dass trotz der gesellschaftlichen Brisanz des Themas nur wenige Künstler sich direkt mit ökonomischen Fragen auseinandersetzen. „Eine Photographie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute.“ Umso wichtiger sind die Filme dieses Programms, die sich mit sehr unterschiedlichen künstlerischen Mitteln ebenso unterschiedlicher ökonomischer Desaster annehmen.

Meinungsverschiedenheiten ist ein recht plumper Propagandafilm, der die Vorzüge der „Sozialen Marktwirtschaft von Ludwig Erhard“ anpreisen sollte. Die Gründung des Industriellenvereins Die Waage, der den Film produzierte, wurde von Erhard selbst angeregt. Sein Ziel war vor allem die Bekämpfung sozialistischer Ideen, die damals auch in Westdeutschland populär waren. In diesem Programm steht der Film auch für den außergewöhnlichen Aufschwung Westdeutschlands in den 1950er Jahren.

Gabriele Mathes’ Eine Million Kredit ist normal, sagt mein Großvater basiert auf den Home Movies ihrer eigenen Familie. Wie fast alle Amateurfilme, so zeigen auch diese die Sonnenseite des Lebens: Partys, Ausflüge, Urlaube. Im Voice-over beschreibt die Künstlerin jedoch den unaufhaltsamen ökonomischen Abstieg der Familie. Einst ein florierender Tischlereibetrieb, gerät ihr Geschäft durch die neuen Ökonomien von Möbelhäusern und Baumärkten schleichend in den Ruin. Der Titel verweist auf den Glauben an ein ewiges wirtschaftliches Aufwärts, dass deshalb auch durch Kredite in schwindelnder Höhe befeuert werden kann. Formal besonders ist das Voice-over: Die tragische Geschichte wird nicht in einem narrativen Fluss, sondern in sprachlichen Bildern erzählt, in Bildern, die damals niemand gemacht hat.

Eine Intervention im öffentlichen Raum dokumentiert Leopold Kesslers Depot. Der Künstler hinterlegt eine nicht unbedeutende Summe Geldes in dem „O“ der Leuchtanzeige einer Polizeistation. Lange vor der Bankenkrise gedreht, verweist der Film auf die Unmöglichkeit ökonomischer Sicherheit. Wenn Leopold Kessler das Geld selbst im Eingang einer Polizeistation unbemerkt deponieren – und auch wieder „abheben“ – kann, wo sollte es dann noch sicher sein? Bei den Banken vielleicht?

Roy Andersson ist bekannt für seine düsteren, schwarzhumorigen Filme. Weniger bekannt ist, dass er diese nicht unwesentlich über seine Einnahmen aus dem Werbegeschäft finanziert. Dabei scheint er keine Kompromisse zu machen: Ganz im Gegensatz zu den genreüblichen, hysterisch fröhlichen Konsumwelten dominieren auch hier graue und grauenerregende Räume, in denen sich hilflose Menschen mit fahlen Gesichtern bewegen. Socialdemokraterna ist ein Spot für die schwedische Sozialdemokratie. In fünf kurzen, inszenierten Szenen wird das Schreckenszenario einer vollkommen rücksichtslosen Welt aufgebaut: „Warum sollten wir Rücksicht aufeinander nehmen?“

Künstler sind in Deutschland die am schlechtesten verdienende Berufsgruppe überhaupt. Dennoch wird diese Form der Armut von ihnen selbst selten thematisiert, die ökonomische Misere wird meist als legitimer Seiteneffekt der kreativen Freiheit verstanden. Der Essay Geschichten aus der Heimat von Curtis Burz verwebt dokumentarische und fiktionale Elemente zu einem Porträt der Stadt Berlin, die inzwischen weltweit Anziehungspunkt für Künstler ist und dadurch auch besonders viele kreative Arme beherbergt.

Der dramatische Selbstmord des gescheiterten Kapitalisten ist ein beliebtes Motiv, um die in der Wirklichkeit eher marginalen Risiken der Wohlhabenden zu dramatisieren. In Der vereitelte Selbstmord steht ein Geschäftsmann vor dem Ruin, weil es ein Unglück in der Grube gab, in die er sein ganzes Geld investiert hat. Er nimmt seinen Revolver. Doch im letzten Moment bekommt er eine Kiste Sekt geschickt. Er öffnet eine Flasche und beginnt zu trinken. „Einige Stunden später“ sind Grube und Kapitalist gerettet. Auf seiner Hochzeit wird fröhlich weitergezecht. „Das Beste gegen Sorgen: Kupferberg Gold.“

Marcel Schwierin

Filmprogramm

  • Meinungsverschiedenheiten, p: Die Waage – Gemeinschaft zur Förderung des sozialen Ausgleichs e.V., Germany 1950s, 35mm, b/w, 3 min
  • Eine Million Kredit ist normal, sagt mein Grossvater, Gabriele Mathes, Austria 2006, 35mm, col & b/w, 22 min
  • Depot, Leopold Kessler, Austria 2005, video, col, 4 min
  • Socialdemokraterna, Roy Andersson, Sweden 1985, video, col, 2 min
  • Geschichten aus der Heimat, Curtis Burz, Germany 2009, video, col, 29 min
  • Der vereitelte Selbstmord, p: Projektions-AG “Union”, Germany 1920, 35mm, b/w, 5 min

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