Fremde in der Welt

Mittwoch
13.10.2010
22:00

Kinder sind nicht selbständig, sie sind zum Überleben auf permanente Hilfe angewiesen. Entsprechend existenziell ist ihr Verhältnis zur Angst. Als Kleinkinder können sie Risiken noch nicht einschätzen, völlig furchtlos nähern sie sich Gefahrenquellen aller Art (umso größer ist die Sorge der Eltern um sie). Später dagegen werden sie sich der Gefahren und auch ihrer eigenen Hilflosigkeit bewusst. Je älter sie werden, desto schwieriger wird die Balance zwischen Selbstbehauptung zur Entwicklung der eigenen Identität einerseits und dem Schutzbedürfnis innerhalb der Familie andererseits. Zentral für ihre Entwicklung ist dabei das Umfeld, in das sie hineinwachsen und auf das sie keinen Einfluss haben. Die Filme dieses Programms stammen aus sehr verschiedenen Kulturen, die sehr unterschiedlich mit Heranwachsenden umgehen.

In den 1950er Jahren wurden in den USA Tausende von Erziehungsfilmen gedreht. Einerseits kann man sie als direkte Nachfolgeprojekte der Zweiten-Weltkriegs-Propaganda sehen. Andererseits sollten sie den neuen Freiheiten der Nachkriegsmoderne aktuelle, dem Zeitgeist angepasste Verhaltensregeln entgegenstellen. Teenager, die gerade in den 1950er Jahren als soziale Problemfälle galten, wurden dabei besonders angesprochen: „Du hättest spontan ja sagen können. Warum hast du es nicht getan, Sally?“ In Toward Emotional Maturity geht es um die Probleme des Erwachsenwerdens und das „unvernünftige, alogische Gefühl“ – also um Sexualität, die vor allem bei Mädchen trotz der neuen Freiheiten unter Kontrolle bleiben sollte. Dabei setzt die westliche Gesellschaft weniger auf die althergebrachte, externe Aufsicht (etwa durch die Eltern oder einen rigiden Sittenkodex). Sally soll selbst „erkennen“ wo die Grenzen ihrer Freiheit liegen und so das neue System der internalisierten Kontrolle errichten; ein System, welches die westlichen Gesellschaften bis heute erfolgreich steuert.

Mit ganz anderen Problemen hat die 13-jährige Najmia in Sanaa zu kämpfen. Sie weigert sich, die für Frauen ab einem bestimmten Alter vorgeschriebene traditionelle Kopfbedeckung zu tragen. Der Dokumentarfilm A Stranger in Her Own City verfolgt den Kampf des jungen Mädchens, das mit viel Witz und Charme gegen die rigide Tradition ankämpft – letztlich vergeblich. Khadija Al-Salami filmt im Unterschied zu dem ersten Film des Programms nicht aus der Perspektive der erwachsenen Gesellschaft, sondern aus der des rebellischen jungen Mädchens. Sie verarbeitet dabei auch ihre eigenen Erfahrungen als Heranwachsende in Jemen.

Valeria Gai Germanica war selbst fast noch ein Kind, als sie begann, Dokumentarfilme über ihre Familie zu drehen. In Boys porträtiert sie ihre 9- und 10-jährigen Neffen, die in einer völlig desolaten Familie aufwachsen. Als die Mutter dem Widerstand der Kleinen nicht mehr gewachsen ist, versucht sie sie in ein Heim abzuschieben. Die Filmemacherin begleitet den Prozess mit ihrer kleinen Handkamera, ihre hektischen Bewegungen in den engen Räumen schaffen ein klaustrophobisches Gefühl, welches den Betrachter immer mehr in das familiäre Elend hineinzieht. Aufgrund dieser intensiven und desolaten Darstellung Russlands wurden Valeria Gai Germanicas Dokumentarfilme heftig angegriffen und wenig gezeigt (besonders Boys). Inzwischen hat sie für ihren nicht weniger radikalen Spielfilm Everybody Dies But Me einen Preis in Cannes gewonnen und produziert in Moskau die ebenfalls heftig diskutierte Fernsehserie School.

Marcel Schwierin

Filmprogramm

  • Toward Emotional Maturity, Knickerbocker Productions, USA 1954, 35mm, b/w, 11 min
  • A Stranger in Her Own City, Khadija Al-Salami, France/Jemen 2005, video, col, 29 min
  • Mal’chiki – Jungs, Valeriya Gay Germanika, Russia 2006, video, col, 36 min
Kardinal-Albrecht-Straße 6 LUX.PUSCHKINo 06108 Halle (Saale)

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