Übergordnete Werke und Veranstaltungen

"Rien ne vaut que la vie, mais la vie même ne vaut rien" - bricoler la vie au quotidien

DE 2002

"Nichts ist wie das Leben, aber das Leben selbst ist nichts" - einen Lebensalltag basteln

Meine Geschichte beginnt mit jenem Dienstag, dem sechsten November, in Düsseldorf. Unter hunderten AsylantragstellerInnen, die sich vor dem Büro zusammendrängen, bin ich der Zweite, der an die Reihe kommt. Zunächst muss ich ein Formular ausfüllen, das meine Identität betrifft, dann teilt man mir eine Kodenummer zu. Immer wenn meine Kodenummer von der elektrischen Anzeige aufgerufen wird, muss ich mich in ein kleines Büro begeben.

Im ersten Büro soll ich den Grund meines Asylantrags angeben; in ein zweites Büro werde ich für die Fotos gerufen und in ein drittes für Fingerabdrücke. Zum Schluss sehe ich mich an einer Kasse vorbeigehen, wo man mir eine Summe von sieben Mark, zwei Tickets, von denen ich nicht sehr genau weiß, was damit machen, und eine Karte aushändigt. Zwei Gefühle bewegen mich: Befriedigung, dass ich offenbar nicht auf ein Schiff gehe, wie mir meine MitantragstellerInnen vorausgesagt hatten, denn die Idee, auf einem Schiff zu wohnen, hat mir Angst gemacht; und ich berühre zum ersten Mal die Deutsche Mark. Mein zweites Gefühl war Neugier, stellte ich mir doch die Frage, wo ich denn hinkomme, wenn nicht auf ein Schiff, und wozu diese Tickets dienen und das Geld, das man mir gegeben hat. Wiederum zusammengetroffen mit meinen KollegInnen und ohne jegliche Hilfestellung untersuchen wir die Karte und erkennen darauf, eingekreist, Halberstadt. So kommen wir auf die Idee, dass Halberstadt mit Sicherheit die benachbarte Stadt sei und die Tickets für den Zug dorthin bestimmt sind. Die Schönheit des Namens Halberstadt lässt mich ein bisschen ins Träumen kommen.

Nach dieser kleinen Abschweifung müssen wir über die wirkliche Reise nachdenken. Hier stellt sich ein anderes Problem, denn jedeR von uns hat diese zwei Tickets und diese sieben Mark – womit beginnen? Wir wenden uns an einen Deutschen, der im Gegensatz zu den Dutzenden, die wir bereits angesprochen haben, bereit ist, uns zu helfen, indem er in holperigem Englisch versucht, uns die Strecke zu beschreiben, die wir zurücklegen müssen. Dennoch können wir uns verständigen, wir haben keine andere Wahl, und er begleitet uns bis zu einer U-Bahn-Station. Er spricht mit einem anderen Deutschen, und ich errate aus dieser Unterhaltung, dass unser Helfer diesen Mann nach dessen Reiseziel fragt, denn er soll uns begleiten und uns sagen, wann wir aussteigen müssen. Danach informiert uns unser Helfer, dass der Mann wie wir am Bahnhof aussteige und er hoffe, dass wir uns dort selbst zurechtfinden würden. Zum ersten Mal höre ich das Wort „Tschüss“ und folge blödsinnig den anderen, indem ich ebenso mit „Tschüss“ antworte.

In der U-Bahn lasse ich den Mann, dem uns unser Helfer und Freund anvertraut hat, nicht aus den Augen. Ungefähr eine halbe Stunde später steigen wir an einem großen Bahnhof aus, und der Mann geht einfach weg, ohne irgendetwas zu uns zu sagen. Was werden wir nun tun auf diesem riesigen Bahnhof? Welchen Zug nehmen? In meinem Leben habe ich noch nie einen so großen Bahnhof gesehen. Einmal mehr diskutieren wir mehr als eine halbe Stunde lang, bis wir uns entscheiden, Erkundigungen einzuziehen. Wir sprechen den ersten Schwarzen an, der vorbeigeht. Er selbst kennt sich nicht besser aus als wir, aber er führt uns zur Informationsstelle. Hier sagt man uns, unser Zug sei schon abgefahren und wir müssten auf den nächsten Zug eine Stunde warten. Zusätzlich zu dieser Information streckt man uns ein Papier entgegen, auf dem die Einzelheiten unserer Reise aufgeführt sind. Nun wird uns klar, dass Halberstadt nicht um die Ecke liegt, denn wir haben sechs Stunden zu fahren. Aber in meiner Vorstellung handelt es sich um eine andere schöne Stadt wie Düsseldorf, denn für mich kann ein Land wie Deutschland nur aus großen Städten bestehen – und überdies handelt es sich nicht um ein Schiff. Eine Stunde später stehen wir auf dem Bahnsteig, bereit zur Abfahrt.

Endlich im Zug angelangt, können wir für einen Moment aufatmen. Bleibt die Frage, wie das mit dem Umsteigen funktioniert. Nach mehr als anderthalb Stunden Reisezeit hält der Zug da, wo wir umsteigen sollen. Kaum haben wir den Fuß auf den Boden gesetzt, sehen wir im Bahnhof einen zweiten Zug, und wir steigen sofort ein ohne innezuhalten. Zweifellos ist dies unser Zug, die Weissen sind ja organisierte Leute und so höflich, die Leute nicht lange auf einen Anschlusszug warten zu lassen, denke ich bei mir. Wie sich später, als wir im Zug sitzend darüber reden, herausstellt, dachten die anderen dasselbe wie ich. Wir haben noch nicht aufgehört, diesen Gedanken zu genießen, als plötzlich der Schaffner aufkreuzt, der uns mit eigenartiger Miene nach unseren Fahrscheinen fragt, die wir ihm mit Stolz hinstrecken. Unangenehm ist unsere Überraschung, als wir vom Schaffner erfahren – diesmal er mit einem Ausdruck von Stolz – dass dieser Zug nicht der unsere ist und dass wir beim nächsten Halt aussteigen müssen. Angesichts unseres Bedürfnisses nach einer Erklärung, hält er uns eine Drohrede, wobei wir das Wort „Polizei“ aufschnappen, das an das französische „police“ erinnert. Nun verstehen wir, dass es ernst ist und dass der Mann wirklich wütend ist. Beim nächsten Stopp steigen wir aus.

Was werden wir jetzt tun, ist die Frage. In Wirklichkeit sind sie nicht dermaßen freundlich, die Weissen, denke ich, aber warum hat sich dieser Mann so aufgeführt? Gibt es ein solches Verhalten auch in Ländern, von denen man sagt, dass hier die Menschenrechte gelten? Einmal mehr wenden wir uns an die Informationsstelle. Man gibt uns einen anderen Reiseplan. Diesmal müssen wir drei Stunden warten, ausgehungert wie wir sind, weil keiner das Risiko eingehen will, seine DM auszugeben, da wir ja nicht wissen, wozu sie vorgesehen waren. Nach drei Stunden kommt ein Zug, in den wir ängstlich einsteigen, denn die vorherige Erfahrung sitzt uns noch in den Knochen. Dass der Schaffner durchgeht und sich darauf beschränkt, unsere Fahrscheine zu knipsen, bestärkt und beruhigt uns, und jedeR kann es sich nun leisten, ein bisschen einzunicken, denn die Reise dauert noch drei Stunden. Was mich betrifft, ich kann nicht einschlafen. Wir kommen gegen elf Uhr abends in Halberstadt an und haben hier das Glück, am Bahnhof auf einen Flüchtling zu treffen. Er sagt uns, dass das Lager nicht in der Nähe sei und wir ein Taxi nehmen müssten. Nun kann ich die Notwendigkeit des Geldes verstehen, das man uns in Düsseldorf gegeben hat.

Nachdem wir zusammengelegt haben, steigen wir in dieser regnerischen Nacht Anfang des Winters ins Taxi. Ich schaue angestrengt hinaus, um herauszubekommen, in welcher Art Stadt ich gelandet bin, aber die Nacht, der Regen und die Geschwindigkeit des Autos sind nicht hilfreich dabei, mir ein Bild zu machen. Was ich aber erraten kann, ist, dass wir immer tiefer in ein von der Stadt abgelegenes Gebiet hineinfahren. Einige Minuten reichen aus, um aus der Distanz drei große Gebäude auszumachen.

Wir kommen an und werden von drei Polizisten empfangen, die uns für eine neue Fotositzung in ein Büro führen. In diesem Moment habe ich bloß den einen Wunsch: dass man mir mein Zimmer zeigt, damit ich endlich schlafen kann. Man händigt jedem von uns einen Beutel aus, der Brot, Sardinen, einige Schüsseln, Löffel, Gabel und Bettzeug enthält. Danach werden wir zum berühmten Transitraum Nr. 221 des Blocks A begleitet. Er ist bei den LagerbewohnerInnen bekannt, da dort alle Männer ihre erste Nacht verbringen. Hier angekommen beschließen wir, vor dem Essen gemeinsam unser Gebäude zu erkunden. Ich mache einen Rundgang durch die Toiletten, bemerke die gesundheitsschädlichen und morschen sanitären Einrichtungen, und hier beginne ich bereits ein wenig, mir sehr viele Fragen zu stellen. Ich tröste mich etwas, indem ich mir sage, dass dies bloß ein Durchgangslager sei, ich hier also maximal drei Wochen verbringen würde. Dann treffe ich aber jemanden, der schon länger hier ist und der mir einen Überblick über das Leben im Lager und in der Stadt verschafft, und ich erfahre von ihm, dass die Dauer des Aufenthaltes in Halberstadt nicht immer genau beschränkt ist, sondern von drei Wochen bis zu drei Monaten dauern kann, je nach dem Glück des Einzelnen. Nach diesem traurigen Bild, gezeichnet von einem Erfahreneren, verabreden wir uns für die kommenden Stunden. Es ist bereits ein Uhr morgens, als ich mich von meinem Gesprächspartner verabschiede. Ich komme zurück in meinen Raum, niedergeschlagen; der Appetit ist mir vergangen und ich lasse mein Essen auf dem Tisch stehen.

Vom Schlaf eingeholt, fahre ich um sieben Uhr morgens auf, wasche mich schnell und klopfe bei meinem Gesprächspartner vom Vorabend an die Tür, damit er mich begleitet beim Ausfüllen der administrativen Formalitäten. Er sagt mir, es sei noch zu früh, die Büros öffneten erst um neun, wir gingen erst in die Kantine, um zu frühstücken. Nach dem Frühstück muss ich in die Büros des Bundesamtes. Ich unterziehe mich der Beantwortung eines Fragebogens, begleitet von der x-ten Fotositzung, und man übergibt mir ein Stück grünes Papier mit meinem Photo drauf – ich werde später erfahren, dass man es „Ausweis“ nennt – und ein anderes, ganz weißes Papier, auf dem das Datum meiner Befragung vermerkt ist, der vierzehnte, also eine Woche später. Danach gehen mein Begleiter und ich zum Sozialamt, wo ich damit empfangen werde, meinen Ausweis vorzuzeigen. Man sagt mir, dass mein Sozialgeld sich pro Monat auf achtzig DM beläuft, dazu kommt ein Scheck im Wert von fünfzehn DM für Kleidung. Man händigt mir einen Schlüssel aus für das Zimmer, das ich mit zwei anderen Personen teile, und schließlich noch Gutscheine für die Kantine. Nun geht es Richtung Krankenhaus für eine medizinische Untersuchung. Dieses ganze Verfahren dauert einen halben Tag, danach gehe ich in mein Zimmer, um meine Sachen einzuräumen und mich auszuruhen.

Am Abend gehe ich zusammen mit meinen Zimmerkollegen zu einem Fest, das von Personen ausgerichtet wird, die verlegt werden sollen. Tatsächlich geht das hier jeden Abend so, wenn die Liste mit den Verlegungen ausgehängt wird. Wir feiern nicht die Trennung, sondern die Befreiung, denn ganz im Gegensatz zu dem, was ich zunächst gedacht habe, besteht Halberstadt vielmehr aus einer unermesslichen Ansammlung von Personen, die sich nostalgisch auf die Epoche Hitler beziehen. In Halberstadt habe ich meine ersten rassistischen Erfahrungen gemacht. Zum Beispiel jener alte Mann, der mich anspricht und, als ich freundlich auf ihn zugehe, „Neger“ zu mir sagt und dann, indem er den Namen Hitler ausspricht, zu weinen beginnt. Und diese junge Afrikanerin, die den Weg zum Krankenhaus sucht und sich um Auskunft bittend an deutsche Frauen wendet, die aber lieber ihre Hunde von der Leine lassen, um diese „Negerin“ auf Distanz zu sich zu halten. Rassistische Handlungen gehören in Halberstadt zur Tagesordnung. So ist es auch, als ich eine Woche nach meiner Ankunft zur Befragung gehe. Von Anfang an fühle ich, dass ich keine Chance habe. Die Verachtung, der ich von Seiten des Befragers und seines Dolmetschers ausgesetzt bin, ergänzt durch deren Einschüchterungen, bringen mich in Panik; ich kann mich nicht mehr kontrollieren und schaffe es nicht, auf die einfachsten Fragen zu antworten; mein einziger Gedanke ist, so schnell wie möglich zu antworten und den Saal zu verlassen. Während der drei Stunden werde ich von diesen zwei Scharfrichtern, die an nichts anderes denken, als mir weh zu tun, lächerlich gemacht, als ob das, was ich in meinem Land durchgemacht habe, nicht ausreichte. Ich komme heraus, erschöpft, geschwächt, müde.

Eine Woche danach bekomme ich das Protokoll und erwartungsgemäß die Ablehnung meines Asylantrages. Ich bin aufgefordert, das Land in den nächsten zwei Monaten zu verlassen oder in den ommenden zwei Wochen Berufung einzulegen. Ich stelle mir zwei Fragen. Zunächst: Wie soll ich das Land verlassen? Wohin gehen? Mit welchen Mitteln? Und: Wie gehe ich in Berufung? Ich verfüge nicht über die geringsten Mittel, um an einen Anwalt heranzukommen. Einige der Erfahreneren im Lager raten mir, Kontakt zur Caritas aufzunehmen; das kostet mich bloß drei DM für die Fotokopien und sechs DM für Briefmarken. Ich entscheide mich dafür. In der folgenden Woche, als ob der Himmel sich erhellte, erscheint mein Name auf der Liste der Verlegungen nach Zerbst, angesagt für die kommende Woche. Drei Wochen Halberstadt, das ist eine Meisterleistung; ich werde als Held gehandelt, ich sauge die Bewunderung der anderen förmlich in mich ein.

Am Morgen des dritten Dezembers ist der große Tag gekommen. Wegen der Modalitäten für die Abreise stehe ich sehr früh auf. Als um neun Uhr, unter den bewundernden Blicken der anderen, der Bus das Lager verlässt, danke ich dem Himmel dafür, dass er mich erhört hat, endlich verlasse ich das Gefängnis. Ich werde in Würde in Zerbst leben. Drei Stunden unterwegs sind drei Stunden zum Träumen. Ich versuche mir mein neues Leben in einer großen Stadt auszumalen, inmitten von Deutschen, in den Supermärkten und auf den Straßen. Mir erscheint sie einsichtig, diese Differenz zwischen Halberstadt, dem Leben in der Stadt des Durchgangs und Zerbst, der Stadt des Wohnsitzes. In Zerbst wird die Integration mit Sicherheit eine Tatsache sein, da man Leute ja nicht zum Wohnen in eine ausländerfeindliche und rassistische Stadt wie Halberstadt schicken würde. In gewissen Momenten schweifen meine Gedanken ab zu meinen KollegInnen, die in der Hölle von Halberstadt zurückgeblieben sind, während ich dabei bin, in ein kleines Paradies einzutreten.

Versunken in meine Träume, werde ich von meinem Nachbarn geweckt, der mit fröhlicher Stimme ausruft: „Mein Bruder, wir kommen schon zu Hause an!“ Wie alle anderen bin ich gespannt, wie meine Residenzstadt aussieht; wir hängen uns alle an die Fenster. Erste Überraschung: Zerbst ist keine Stadt, sondern ein Dorf; aber das macht nichts; wenn die Leute hier menschlich sind, ist es gut so. Die zweite Überraschung kommt, als wir plötzlich von der Hauptstraße hinunterfahren, immer tiefer in den Wald hinein, an einem Friedhof vorbei; wir kommen auf einer Art Hof an, wo wir ein kleines Gebäude sehen, verloren auf dem offenen Feld. Als der Wagen vor diesem Gebäude stoppt, erheben sich Ausrufe der Not – es ist die komplette Niedergeschlagenheit. Ich mache mir aber weiterhin Hoffnungen; wohl wahr, dass wir uns hier genauso isoliert wiederfinden wie in Halberstadt, aber vielleicht sind ja die Leute nett hier. Neugierig, dies schnell zu erfahren, räumen meine Kollegen und ich eilig unsere Sachen ein und beschließen, einkaufen zu gehen. Ganz außer Atem über die dreihundertachtzig DM Sozialhilfe, die wir ab jetzt pro Monat bekommen, betreten wir in den erstbesten Laden. Wir achten kaum auf die anderen Leute, denn wir sind intensiv damit beschäftigt, die Preise hier mit jenen aus Halberstadt zu vergleichen.

Nachdem ich damit fertig bin, gehe ich Richtung Kasse und nehme dabei mein Handy heraus, um nach der Uhrzeit zu schauen. Dann, gerade will ich es wieder in meine Tasche stecken, taucht eine Verkäuferin auf, die mir sagt, dass sie mich durchsuchen will, überzeugt davon, dass ich einen Verkaufsartikel in meiner Jacke habe verschwinden lassen. Unter aller Augen tastet sie mich von Kopf bis Fuß ab. Hilfesuchend wende ich mich zunächst den Deutschen zu, auf eine mögliche Intervention hoffend. Aber ich treffe nur auf Blicke voller Hass und Verachtung. Dann schaue ich auf die Meinen. Die Frauen haben Tränen in den Augen und aus den Augen der anderen spricht das Höchstmaß an Enttäuschung. Nicht nur meinetwegen, auch um ihrer selbst willen; es sind alle Menschen schwarzer Hautfarbe, die hier durchsucht und erniedrigt werden. Man lässt mich los, nachdem nichts Verdächtiges an mir gefunden wird, außer dem, was ich in der Hand halte. Ich gehe zur Kasse, um zu bezahlen. Weinend verlasse ich den Laden, denn noch nie in meinem Leben habe ich eine solche Demütigung erlebt. Zurück im Lager erörtern wir das Problem mit denjenigen, die hier schon länger wohnen, und sie erzählen uns von ihren Kämpfen mit den Nazis. Nazis seien sogar gekommen, um nachts Feuer zu legen im ehemaligen Lagergebäude, die Polizei hingegen hätte mit dem Finger auf die BewohnerInnen gezeigt. Seltsame Sache aus meiner Sicht; es fällt mir schwer zu verstehen, wie jemand sein Haus anzünden und sich dann darin schlafen legen sollte – außer vielleicht, wenn es sich um einen Selbstmordversuch handelte, was ich als Grund akzeptieren könnte, angesichts des Rassismus der hiesigen Bevölkerung. Jeden Tag, wenn wir AfrikanerInnen einen Laden betreten, ist dies Veranlassung genug, uns einen Bodygard an die Fersen zu heften, der unsere Gesten überwacht. Anfang des Jahres wechselt die Währung von DM zu Euro und meine Sozialhilfe beläuft sich nun auf hundertachtundneunzig Euro neunundzwanzig Cent. Mit diesem Geld muss ich mich ernähren, mich kleiden, dreißig Euro pro Monat an meinen Anwalt überweisen, telefonieren gehen, wobei die die nächste Möglichkeit dafür mehr als drei Kilometer entfernt von meinem Lager am Boneschen Weg ist: das Lager am Ahronweg. Telefonieren ist ein wichtiges Detail für unseren inneren Halt: mit Familienmitgliedern zu sprechen, die im Land zurückgeblieben sind. Für das wenige Geld, das mir nun noch bleibt, da ich nicht in die Dorfdiskothek „Jungle“ gehen kann, weil der Zugang hier für Schwarze verboten ist, beschließe ich, ein Bankkonto zu eröffnen. Auch hier: Ich klappere alle Banken ab, ohne Erfolg. Ich beschränke mich darauf, einen Alltag zu leben, indem ich versuche, meine Tage dadurch zu verkürzen, dass ich spät schlafen gehe und mit geschickter List Krankheiten erfinde, damit ich den Arzt besuchen kann, denn das verschafft mir eine Beschäftigung. Jeder Tag gleicht dem anderen, man tut exakt dieselben Dinge.

Warum erzählt man uns in Zerbst etwas von Integration, wenn es doch nur die Autoritäten sind, die sich darin gefallen, die Integration zu deklarieren? Warum bringt man uns am Boneschen Weg unter, dermaßen isoliert und so weit weg? Sind wir ansteckend? Sind wir nichts als Diebe? Lügner? Mörder? Oder schlimmer noch, Tiere? Nein, wir sind Menschen, wir haben dieselbe Grundlage wie die Weißen. Wir leiden in Zerbst unter Undankbarkeit, Isolation, Stress und Rassismus. Für euch, die ihr meinem Weg durch Deutschland bis hierher gefolgt seid – und er wird noch lange nicht beendet sein, da ich noch immer in Zerbst wohne –, haltet fest, dass sich viele andere Flüchtlinge in meiner oder in einer noch schlimmeren Situation befinden. Sie bitten um Hilfe, ein bisschen Liebe und Würde. Aus großer Distanz, von oben betrachtet, erscheint das Leben eineR AsylantragstellerIn als eine wahre Kampfstrecke mit unterschiedlichen Etappen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass der/die AylantragstellerIn über keinerlei Waffen verfügt. Aber mehr noch, es handelt sich um einen Kreuzweg: Christus ist gestorben und auferstanden, um respektiert, verstanden und gerettet zu werden. Meine Auferstehung wird mein Pass sein.

Mabouna II Moise Merlin

Mabouna II Moise Merlin/Brigitta Kuster, 2-Kanal-Videoinstallation (loops á 8 und 16 min.), 2002. Ausstellungsort: Sporthalle Werkleitz.

"Rien ne vaut que la vie, mais la vie même ne vaut rien" - bricoler la vie au quotidien

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