Reisertausch

Samstag
01.5.
 
 
Sonntag
17.10.2010

Auf einem Schwarztauschmarkt an der deutsch-tschechischen Grenze hat Ella Ziegler (Berlin) im Frühjahr tschechische Edelreiser ertauscht und damit Apfelbäume in Halle veredelt.

"Reisertausch" beschreibt eine Kulturtechnik der Früchteveredelung, wie sie im Bereich der Veredelung von Obstgehölzen Anwendung findet. Ein Reis (Plural: Reiser) oder Edelreis ist ein wenige Zentimeter langes Teilstück einer Rute einer Edelsorte, z.B. einer Apfelsorte. Unter Veredelung versteht man eine traditionelle Form der künstlichen vegetativen Vermehrung von verholzenden Pflanzen, typischerweise Rosen- und Obstsorten. Bei der Veredelung verwachsen Gewebszellen der Edelreiser von ausgewählten Mutterpflanzen mit den Unterlagen. Unterlagen können Pflanzen oder Wurzeln sein, die die Edelreiser nach dem Verwachsen ernähren können. Im Prinzip handelt es sich um eine Transplantation eines Pflanzenteiles auf eine andere Pflanze. Da beim Veredeln ein genetisches Individuum vervielfältigt wird, könnte der Vorgang auch als eine traditionelle Form des Klonens bezeichnet werden. Die Veredelung von Obstgehölzen hat das Ziel, eine Edelsorte mit einer geeigneten Unterlage dauerhaft zu verbinden. Durch die Kombination geeigneter Veredelungspartner erhält man ein Gehölz, das einerseits die gewünschten Früchte trägt und andererseits den Wünschen bezüglich Größe, Erziehungsform oder Pflegebedarf entspricht. Resultat ist ein Hybrid. Im Gegensatz zur Aussaat (generative Vermehrung) haben die durch Veredelung neu entstandenen Pflanzen (vegetative Vermehrung) identisches Erbgut und gleiche Eigenschaften wie die Mutterpflanze. Mittels der Pflanzenveredelung können keine neuen Arten gezüchtet werden. Neue Arten können ausschließlich generativ aus Zufallssämlingen oder mittels Züchtungen entstehen.

Die vorangestellte Bezeichnung „Hybrid“ betont ein aus unterschiedlichen Arten oder Prozessen zusammengesetztes Ganzes. Die Veredelung beschreibt ein Zusammenbringen von zwei Systemen, deren sich ergänzende Qualitäten die erwünschten Eigenschaften erst ermöglichen. Auch wenn das Zusammenbringen verschiedener Subsysteme ein Prinzip von Systemen ist, meiden moderne, ökonomisch ausgerichtete Gesellschaften eher solche Hybrid-Lösungen. Denn das Hybridartige bedeutet, dass Doppel- oder Mehrfachlösungen für die gleiche Funktion eingesetzt werden. Es entsteht ein erhöhter administrativer Aufwand, da die Hybride einen jeweils unterschiedlichen inneren Aufbau besitzen. Heutige Gesellschaftssysteme sichern ihr Fortbestehen jedoch eher aus der Redundanz, das heißt der Mehrfachverwendung gleicher Teile für die gleiche Funktion oder dem Zusammenfügen unterschiedlicher Subsysteme. So wird im Bereich der industriellen Landwirtschaft die Artenvielfalt vor dem Hintergrund der industriellen Absatzstrukturen und Produktionsarten ständig erheblich eingeschränkt. Die klassischen Kulturlandschaften, wie sie im 19. Jahrhundert etabliert wurden, fallen zunehmend der industriellen Landwirtschaft und dem Einsatz von Saat-, Ernte- und Verarbeitungsmaschinen zum Opfer. Indem Ella Ziegler mit ihrer Arbeit Reisertausch eine historisch überlieferte bäuerliche Kulturtechnik in einem heutigen Ausstellungskontext etabliert, weist sie auf die Problematik dieses Phänomens. Resultat ist nicht eine starke Veränderung der Kulturlandschaft allein, sondern der mit ihr verbundenen kulturellen Identität der Landbevölkerung mit historisch gewachsenen Berufen, Verarbeitungstechniken und Überlebensstrategien. Ziel der industriellen Landwirtschaft ist die industrielle Landwirtschaft und nicht die klassische Kulturlandschaft. Die klassische Kulturlandschaft ist ein Identität stiftendes gesellschaftliches Element, das zunehmend Menschen in den spätmodernen und spätkapitalistischen Gesellschaften zu faszinieren beginnt.

Ella Ziegler schafft also mit Reisertausch nicht nur ein botanisches Hybrid, sondern weist ebenso auf ein kulturhistorisches Phänomen, das sie parasitär in eine Kunstausstellung implementiert, um auf die Bedeutung des Zusammenhangs von kultureller Identität, Kulturlandschaft und Kunst hinzuweisen. Hinzu kommt, dass sie tschechische und deutsche Reiser für die Veredlung nimmt und damit zusätzlich symbolisch für die kulturelle Vielfalt auch im ethnischen und grenzübergreifenden Sinne plädiert. Voraussetzung für die kulturelle Vielfalt ist der sinnvolle Austausch von Erfahrungen im Umgang mit historisch gewachsenen Kulturtechniken und Ressourcen.

Ella Ziegler selbst spricht davon, ihr Ansatz sei es, das Traditionelle neu zu denken und der heutigen Zeit entsprechend zu interpretieren. Sie entscheidet sich für etwas, das sich zunehmend vor dem Hintergrund spätmoderner Kulturtheorie als Zukunftsmodell abzeichnet: die vernakulare Gesellschaft. Vernakular im Sinne von Erhalten von ortsspezifischen, traditionell gewachsenen Kulturtechniken und Identitäten. Zieglers Arbeit ist vergleichbar mit der Wiederansiedlung von vom Aussterben bedrohten Tierarten in Biotopen und Landschaftsschutzgebieten. Es ist an der Zeit, kulturelle Identitäten und Techniken für die Zukunft zu bewahren und ihr Lösungspotenzial Grenzen übergreifend zu begreifen. Dass eine Kunstausstellung hierfür einen Rahmen gibt, scheint mir besonders bemerkenswert zu sein.

Wolf Guenter Thiel

Intervention

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