Übergordnete Werke und Veranstaltungen
Marking The Line
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„Es ist in der Tat recht auffällig, wie viele verunsichernde Momente aus der Verletzung oder dem Bruch einer scheinbar autonomen, klar abgegrenzten Sphäre erwachsen.“1
In Raymond Taudin Chabots aktueller Arbeit, der Soundinstallation Marking the Line, hören wir einen Menschen, der eine Abfolge von Noten pfeift, die ohne offensichtliches System wiederholt und variiert werden. Anstatt einer durchgängigen Melodie oder eines vollständigen Liedes hören wir den Versuch, sich an eine einfache Tonfolge aus dem Gedächtnis zu erinnern. Die akustische Farbe des Pfeifens ist verhalten und unbestimmt. Eine spezifische oder wiedererkennbare Melodie ist nicht wahrnehmbar. Der Ton wird nach dem Zufallsprinzip auf fünf Lautsprecher verteilt. Durch diese Streuung formen die Töne eine sich ständig verändernde, dreidimensionale Klanglandschaft. Das Pfeifen scheint gleichzeitig überall und nirgends zu sein.
Durch die zufällige Klangverteilung zwischen den Lautsprechern ist es schwierig, die Quelle einer Melodie durchgängig vorherzusagen. Da sich der Zuhörer im Raum bewegt, führt diese Ungewissheit zu einem Gefühl der Orientierungslosigkeit. Er bewegt sich zwangsläufig zwischen verschiedenen Zonen, in denen die Anteile von Klarheit und Bewusstsein, Vagheit und Sensibilität ständiger Veränderung unterliegen. Der ursprünglich klar erfahrbare, begrenzte Ausstellungsraum wird dezentriert und destabilisiert.
Das Pfeifen nimmt eine eigenartige Stellung ein, irgendwo zwischen Sprache und musikalischem Ausdruck. Diese stimmliche Äußerung erlaubt es Individuen, ihren persönlichen Raum zu markieren und abzugrenzen. Es verstärkt die Präsenz des Pfeifenden und kündigt sein Erscheinen an. Das Individuum, das im öffentlichen Raum mit der Präsenz und dem erratischen Verhalten anderer Individuen konfrontiert wird, ist fortwährend mit der Abgrenzung und dem Schutz der individuellen Sphäre beschäftigt. So wird das Pfeifen zu einer Erweiterung des Körpers.
Raymond Taudin Chabot überträgt diesen Akt der Demarkation aus der öffentlichen Sphäre der immerwährenden menschlichen Interaktion in die semi-private Sphäre des Ausstellungsraums, der ein verändertes Verhalten der Individuen mit sich bringt. Die Ausstellungsbesucher haben generell eine erhöhte Sensibilität für ihre Körper und Bewegungen im Verhältnis zu den Objekten (oder in diesem Fall den Klängen), die sie in einem ansonsten leeren Raum umgeben. Das Pfeifen wird zu einem verwirrenden Eindringen in die individuelle Sphäre der Besucher.
Das Erinnern einer Melodie läuft häufig unterbewusst ab, wobei das Bewusstsein zwischen Aufmerksamkeit und Abgelenktsein oszilliert und die Melodie durch Wiederholung und Ausdauer nach und nach erinnert wird. Dann fasst der Sänger oder der Pfeifende die einzelnen Liedfragmente zusammen und reproduziert die Noten entsprechend seiner Erinnerung oder Interpretation.
Taudin Chabots Klanginstallation bezieht sich in vergleichbarer Weise auf die Wechselwirkung von Aufmerksamkeit und Ablenkung. Die gepfiffenen Tonfolgen bewegen sich fortwährend zwischen den Lautsprechern und stören somit die Konzentration des Zuhörers, der versucht, vis-à-vis der unsichtbaren Präsenz des Pfeifenden seine eigene Position im Raum zu definieren. Die kulturelle Logik des Kapitalismus verlangt, dass wir einen raschen Wechsel der Aufmerksamkeit von einer zu einer anderen Sache als einen natürlichen Vorgang akzeptieren. In Marking the Line wird dieser Zwang durch das ständige Wechselspiel von Wiederholung und Variation, Distanz und Nähe unterminiert. Dieser Zustand der Verstörung definiert individuelle Grenzen im Verhältnis zu einer instabilen Umgebung neu und ruft für den Hörer der Klanginstallation eine unheimliche und unangenehme Situation hervor.
Marking the Line kann auch als ein minimalistisches „Anti-Event“ verstanden werden. Obwohl die gepfiffene Tonfolge Schwankungen unterliegt und variierende Tonalitäten und Rhythmen annimmt, bleibt die Klangsequenz insgesamt gleichförmig und ohne deutlichen Höhepunkt. Die Erwartungshaltung des Zuhörers kollidiert mit dem ereignisarmen Verlauf der Arbeit. „Es geht weniger darum, die Zuschauer zu frustrieren, als vielmehr um die Spannung des Hinzufügens und Wegnehmens, das Wecken von Erwartungen, die dann nicht erfüllt werden, zumindest nicht, wie man es vermutet ...“2
Die Idee des „Anti-Events“ taucht in Raymond Taudin Chabots Schaffen immer wieder auf. Marking the Line ist seine erste Soundinstallation und kann als eine Erweiterung seiner bisherigen Praxis, die Video und Fotografie umfasst, betrachtet werden. In den Videoarbeiten That Place (2007) und Before Completion (2007) wird seine Auffassung von „Ereignislosigkeit“ am deutlichsten, sie spielt aber auch in fotografischen Serien wie Silent Queue (2008) und Limbo (2006) ein Rolle. Die Zeit dehnt sich und zieht sich zusammen, sie verdichtet sich und implodiert – sie ist für den Betrachter einer Arbeit immer höchst präsent. Die Idee von Zeit in Taudin Chabots Arbeiten kann wie folgt beschrieben werden: „… ein simultanes Zu-Spät und Zu-Früh, ein Etwas, das sowohl gleich passieren wird, als auch gerade passiert ist.“3
1 Susan Smith, Hitchcock: Suspense, Humour and Tone. London: BFI 2000, S. 78.
2 Janet Kraynak (Hg.), Please Pay Attention Please: Bruce Nauman's Words. Boston: MIT Press 2005, S. 272.
3 Gilles Deleuze & Felix Guattari, A Thousand Plateaus. New York: Continuum 2001, S. 262.