Übergordnete Werke und Veranstaltungen

India in Mind - Auf der Suche nach dem Hier und Jetzt

DE 2006

Indien trägt seit jeher ein Versprechen in sich.

Stellen wir uns vor, ein genialer Marketing-Stratege hätte vor Jahrhunderten die Wünsche der Europäer akribisch gesammelt, destilliert und mit dem Markennamen Indien versehen. Heute wäre daraus India TM geworden: ein globaler Dienstleistungskonzern mit immer neuen Produkten und Updates, ein globales Phänomen transnationaler Herkunft. Spiritualität, Philosophie, Farben, Gerüche, Musik verwirren sich zu einem Knäuel, das weniger auf den realen Subkontinent als auf die hiesigen Leerstellen verweist. Diese Leerstellen will die Installation India in Mind aufspüren.

In sechs Kapiteln vollzieht sich die ausschnitthafte Annäherung an Menschen aus Deutschland, die in ihrem Leben eine besondere Verbindung zu Indien haben: freiwillig oder unfreiwillig, temporär oder dauerhaft. Weder zufällig noch mit dem Anspruch auf repräsentative Vollständigkeit finden sich diese Schnittstellen im breiten Spektrum zwischen Yoga und Globalisierung. Unser Interesse gilt den sechs Protagonisten in ihrem Alltag: der Architektur, die sie umgibt, den Geräuschen und Tätigkeiten, die diesem Alltag einen Rahmen geben. Wo wird diese Hülle durchlässig für eine andere, eine imaginäre Welt? Was lässt man hindurch, und was wird in diesem Transfer gefiltert?

Eine Münchener Unternehmerin trainiert im Yoga seit sieben Jahren Körper und Geist. Sie bezeichnet sich selbst als rationalen Menschen, der durch diese Betätigung gelernt hat, im Hier und Jetzt zu leben. Die Prinzipien des Jivamukti-Yoga erzeugen Rückkopplungen in der materiellen Businesswelt. Die Lehrerin an der Mahatma-Gandhi-Oberschule in Berlin-Marzahn unterrichtet Mathematik und Physik. Indien rückte erst mit der Umbenennung der Schule durch die Schüler in ihr Bewusstsein, die damit ein Zeichen für Gewaltlosigkeit setzen wollten. Frankfurt am Main, ein Reisebüro, in dem die Bewohner des Nordends Fernreisen nach Asien oder den Pauschalurlaub in Mallorca buchen. Der Besitzer wurde vor über 20 Jahren im legendären Ashram von Poona zum Anhänger von Baghwan Shree Rajneesh. Heute integriert er den indischen Einfluss stärker in den Alltag, und auch das Kochen für Freunde hat einen meditativen Aspekt. Im Bollywood-Forum treffen sich junge Fans der indischen Filmindustrie. In den weltweiten Kassenhits finden sich Wertvorstellungen, die sie in ihrem Alltag vermissen: Familie, Liebe, Romantik. Eine Hamburger Abiturientin kreiert ihre eigenen Welten, in denen sie virtuell zum Teil des "Planet Bollywood" wird. Ein kleines Dorf in Brandenburg ist Schauplatz einer ungewöhnlichen Mutter-Sohn Beziehung zwischen Nähe und Distanz. In mühevoller Kleinarbeit restauriert ein Steinbildhauer das alte Pfarrhaus. Esoterik und indische Spiritualität liegen ihm fern. Seine Mutter hingegen verschwand vor zwanzig Jahren nach Indien, wo sie und zwei ihrer Töchter heute nach den strengen Regeln einer hinduistischen Gemeinschaft leben. Ein deutscher Manager arbeitet für einen indischen IT-Konzern in München. Beruflich praktiziert er täglich die Globalisierung in einem papierlosen Büro – noch vor zehn Jahren ein unvorstellbares Zukunftsszenario. Doch der Mensch in seiner physischen Realität bewegt sich schwerfälliger als im Cyberspace. Alte und neue Bilder des indischen Subkontinents prallen in den Vorstellungen der Kunden in Deutschland aufeinander.

Die Installation wird zu einer spätwinterlichen Rundreise durch Deutschland. Tableauartig, in langen Einstellungen wird das Vertraute durchlässig für das Fremde. Überraschende Verschiebungen verändern das, was wir zu kennen glauben, weil wir ihm täglich begegnen. Indien existiert ausschließlich als Ort der Vorstellung, eine Lupe, in der die Person dem Betrachter plötzlich näher rückt – so nah, dass der Kontext, das Drumherum, für einen kurzen Moment verloren geht.

Die audiovisuelle Reise India in Mind kann und soll ausschließlich in der Gegenwart stattfinden, in einem Jetzt, in dem die Welt kleiner erscheint und gleichzeitig unser Radius sich erweitert. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass sich aus dieser Gleichung Nähe ergibt. Die Phantasien und Vorstellungswelten der Vergangenheit, deren Attraktivität in der Fremde, der Distanz lag, haben ihre Kraft durchaus nicht verloren. Vielmehr scheinen sie sich hartnäckig einer Realität zu widersetzen, auf die wir tatsächlich und physisch Zugriff haben. An diesem Punkt trennen sich das reale Indien und unsere Vorstellung davon, die Wünsche, Träume und Bedürfnisse, die wir aus unserem Leben hier generieren, um sie mit mehr oder weniger indischen Destillaten zu erfüllen.

Das reale Indien ist weit weg. India TM ist hier, in Berlin, München, Hamburg. Auf dem Land und in der Stadt. Die Entfernung zwischen beiden bleibt immer gleich.

Video, 30 min

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