in the city of sofia

BG 1989

Shu Lea Cheang fliegt nicht gern. Trotzdem nutzt sie das Flugzeug häufig, nicht aufgrund irgendeiner oberflächlichen Anti-Öko-Haltung, sondern aus der unangenehmen Notwendigkeit heraus, die Legionen von zeitgenössischen Kosmopoliten verbindet, meist desinteressiert an den Zeitzonen, die sie zufälligerweise in irgendeine Richtung durchqueren. Als Künstlerin und digitale Aktivistin ist sie häufig an unterschiedlichste, über mehrere Kontinente verstreute Projekte gebunden. Zeitweise agiert sie als kaum sichtbarer Katalysator kreativer Prozesse. In diesen Projekten und in ihrer künstlerischen Raison d'Être geht es um Zurückhaltung, Bodenhaftung und das Herstellen vielfältiger rhizomatischer Verbindungen zwischen Individuen, die sich dann für die Unterstützung und Weiterentwicklung der durch Shu Lea in Gang gesetzten künstlerischen Strategien zusammenfinden. Sie bereist sowohl reales als auch virtuelles Terrain, wobei sie unterwegs ständig potenzielle Gesprächspartner und Ressourcen aufstöbert. Zeit, Ort und die Erfahrungen aus früheren Ereignissen verschmelzen in Shu Leas künstlerischer Praxis ineinander, wodurch ihre Projekte zu einer ständig wachsenden Erzählung verknüpft werden. Ihre Arbeitsweise fördert und erfordert per se die diskrete Notwendigkeit, sich für jedes Projekt nur das unabdingbare Wissen anzueignen – ein Modus Operandi, der seinen Widerhall in der „Immaterialität“ code-basierter, aus PD-Patches bestehender Insider-Systeme findet, die in den Randgebieten ihrer Telekommunikationskunst lauern. In ihren komplexen und partizipativen, „offenen“ Kunstwerken gelingt es Shu Lea, Aspekte technologischer Emanzipation mit der Stärkung von Bürgerrechten, Meinungs- und Bewegungsfreiheit zu verbinden. Sie integriert in ihre Projekte neue Formen des Urbanismus und bezieht verschiedenste „Nutzer“-Gruppen ein.

Von Natur aus instabil und frei von einem vorgefassten Narrativ, sind Shu Lea Cheangs Arbeiten auf eine scheinbar unvorhersehbare Choreografie aus Fähigkeiten, Ideen und Intuition angewiesen, wobei jedes dieser Elemente eine spezifische Botschaft vermittelt. Ob das nun bedeutet, „soziale Medien in ein Hypermedien-Experimentierfeld“ zu verwandeln, indem in ihrem Projekt Garlic=Rich Air gentechnisch unveränderter Knoblauch als soziale Währung der Zukunft deklariert wird, oder ob sie ein Netzwerk freier Kulturprojekte als Königreich der Piraterie (KOP) initiiert – in Shu Leas Mission geht es um den unbehinderten Austausch von Ideen, Kreativität und Daten mittels vernetzter und mobiler Technologien. Vergleicht man Shu Leas Praxis mit Yves Kleins Aktion zum Tausch immaterieller Sensibilitäten, in deren Rahmen er leeren Raum, also Leere, gegen Gold tauschte, wird deutlich, dass ihre Arbeit eine Re-Evaluation ökonomischer und politischer Systeme impliziert. Ihr Wertesystem ist in den größeren Zusammenhang globaler, offener Systeme eingebunden, in denen der Tausch virtueller Räume und Gesellschaftsmechanismen in Form spekulativer Akte stattfindet, die wiederum in neue Formen kreativen Kapitals recycelt werden.

Der künstlerische Ausdruck hat in Shu Leas Praxis somit eine offenkundige politische Bedeutung, selbst wenn eine Arbeit nicht direkt politisch ist oder mit einer spezifischen politischen Agenda ausgestattet ist. Ihr künstlerischer Weg entfaltet sich als ein komplexes Experiment, in dem die Ausdrucksform unabhängig von einem spezifischen Medium ist. Nachdem sie ursprünglich mit Film arbeitete, konzentriert sich Shu Lea inzwischen auf Live-Coding und virale Eskapaden. Diesmal hat sie sich für eine Reise über Land entschieden, von Westeuropa in den mythischen „tiefen Osten“, nach Sofia, Bulgarien. Angesichts ihrer Erinnerungen an den Aufenthalt in Peking, der zeitlich parallel zu den Osteuropäischen Revolutionen lag, startete Shu Lea ein Projekt, das ihre eigene Entwicklung bis ins Jahr 1989 zurückverfolgt – dasselbe Jahr, in dem es zum ersten globalen Ausbruch eines Computervirus kam. Ob Tiananmen oder ehemaliger Ostblock – 1989 war ein Jahr der Schwebe und des systemischen Ausprobierens. In Folge der Aufstände und der Unmutsäußerungen entstanden neue kreative Freiräume mit in Gänze unüberschaubaren und beispiellosen Folgen. Gesellschaften, die bis dahin nach außen abgeschottet waren, mussten einen Schwebezustand zwischen angespannten, jedoch historisch gewachsenen Ordnungen und extremen sozialen und persönlichen Risiken aushalten. Revolutionsnachrichten überwanden mittels verbesserter Telekommunikationstechnologien die traditionell gesicherten Nationalgrenzen, und ebenso markierten die Geld- und Waren-, Informations- und Datenströme erste Triumphe von elektronischer Peer-to-Peer-Kommunikation und Wissenstausch.

Im Zuge dieser Kakophonie des Durcheinanders tauchte EDDIE auf, inmitten der Neuordnung gesellschaftspolitischer Landschaften. Bulgarien, tief in der Spionagewelt des „Ostblocks“ verwurzelt, hatte bereits mehrere Apple Computer geklont. Benannt nach der Heimatstadt des bulgarischen Staatschefs Todor Živkov, in der die ersten PCs in Bulgarien entwickelt wurden, war die Computerproduktion des Pravez-8 Brutstätte für eine der taktisch geschicktesten Truppen von Softwareprogrammierern des Ostblocks, deren Kenntnisse der Mathematik und algorithmischer Architekturen weit über die Notwendigkeiten der RGW-Richtlinien hinaus angezapft wurden. Es wird spekuliert, ob EDDIE, angeblich programmiert und verbreitet von einer (dunklen) Macht unter dem Decknamen Dark Avenger, ein Ergebnis dieser Technikaffinität ist als eine Nachricht an die im Entstehen begriffene Welt der Netzwerke oder ob er durch verseuchten Programmiercode lanciert wurde, um das industrielle Reverse-Engineering der Bulgaren zu stören. Wie auch immer – Dark Avenger hinterließ seine Signatur im EDDIE-Virus: „Diese Software wurde in der Stadt Sofia geschrieben (C) 1988-89 Dark Avenger.“ Vielleicht mehr noch als sein Autor, dessen Identität nach wie vor ungeklärt ist, wurde dieser Akt selbst ein Synonym, wenn nicht sogar Metapher für die Schattenseite der politischen Proteste, die sich damals in Osteuropa ausbreiteten. Das bulgarische Regime brach zusammen, und gleichzeitig war EDDIE (illegal?) in die Vereinigten Staaten eingereist und stärkte den Ruf Bulgariens als eine gefährliche Nation, die selbst noch im Niedergang des Kommunismus aggressiv die Mittel für verdeckte ökonomische und politische Störmanöver lieferte.

Heute erleben wir das globale Wanken der Volkswirtschaften und angesichts dessen steigt – wenn auch in kleinem Rahmen – die Anerkennung für die Kontrollfunktion, die Hacker-Aktivisten angesichts von Regierungsunfähigkeit, Wirtschaftslobbyismus und -spionage übernommen haben. Sie machen die Öffentlichkeit auf die heiklen Details und Machtmechanismen aufmerksam, denen der Fluss von Informationen, Daten und Identitäten unterliegt. Es ist sicher kein Zufall, dass Shu Lea auf dem Weg nach Sofia die Spur Dark Avengers genau zu diesem Zeitpunkt aufgenommen hat, auf der Suche nach der schwer zu fassenden Gestalt, die hinter dem legendären Software-Rebellen des Kalten Krieges steht. In dem Szenario In the city of Sofia ©1989-2009, das im heutigen Sofia als ein fiktives Treffen zwischen Dark Avenger und der bulgarischen Journalistin EK inszeniert wird, tritt EDDIE zum entscheidenden Spiel zwischen dem revolutionären Bulgarien von 1989 und dem Bulgarien der Europäischen Union des Jahres 2009 an. Damit nimmt sich Shu Lea Cheang einer weiteren fantastischen Situation an, in der Ost- und Zentraleuropa eine Schlüsselposition in der turbulenten Geschichte der Medienkulturen innehaben – insbesondere von Netzkunst und poetisch-viralem Hacker-Aktivismus.

„Eddie lives ... somewhere in time. I don’t want to go to school. No more pigs. Takeme memory.“

Stephen Kovats, Respondent

in the city of sofia, ©1989-2009

In the city of Sofia

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