Übergordnete Werke und Veranstaltungen

Heaven Heaven Heaven

DE / CH 2013

Utopie als Freiheit der Vorstellungskraft

Versuch über eine utopische Skulptur von Barbara Caveng

Das aus Menschenknochen zusammengebaute Werk Heaven Heaven Heaven (2013) von Barbara Caveng (*1963) entspricht ziemlich genau der Originalgröße einer Kalaschnikow AK-47. Verwendet wurden ein Schulterblatt, ein Oberschenkelknochen, Elle und Speiche, ein Oberarmknochen, ein Unterschenkelknochen, ein Fuß- und ein Handskelett.Waren es bislang Materialien wie Fett, Filz, Lumpen, Elefantendung, Schneckengehäuse, Schokolade oder Tierknochen, die von Künstlern in der Gegenwartskunst eingesetzt wurden, kommt es nun in dieser Arbeit erstmals zu einer Verwendung von menschlichen Knochen, um eine Waffe darzustellen, deren einziger Zweck es ist, Menschen zu töten. 100 Millionen dieser vollautomatischen Gewehre sollen weltweit im Umlauf sein. Vietnam, Afghanistan, Kongo, der Balkan, Palästina, Syrien, Ägypten – keine kriegerischen Krisen ohne die Kalaschnikow. Der Tod als antiutopisches Motiv.

Die Kunst als Waffe

Auch die Kunst selbst hat das Potenzial, die Bedeutung einer Waffe anzunehmen oder als solche bewusst eingesetzt zu werden. Ob in der Literatur oder der bildenden Kunst, ob als Auftragsarbeit für die Zwecke politischer Propaganda oder in ihrer Rolle als freie Kunst. So schon zusammengefasst in der Aussage von Friedrich Wolf aus dem Jahr 1928: „Die Kunst heute ist Scheinwerfer und Waffe!“1

Die in Berlin lebende Schweizer Künstlerin Barbara Caveng hat bereits aus Bananenschalen (2010) eine Kalaschnikow nachgebaut und später einen Versuch mit Rinderknochen vorgenommen. Während eines Aufenthalts in Syrien (2011) erlebt sie bedrohlich und hautnah den Einsatz von Waffen im Alltag. Wer mit dem Rücken zur Wand steht und in den Lauf eines Gewehres blickt, kann diesen Augenblick als „reinen Moment erleben“ (Caveng). Die künstlerische Suche nach dem passenden Ausdruck eines solch existentiellen Gegenwartsmomentes führte hier nun zur Idee, eine Waffe aus Menschenknochen zu gestalten – der Kalaschnikow AK-47, dem meistgebauten Sturmgewehr der Welt. Ihr Name und Gebrauch stehen als Symbol für brutale und kompromisslose Gewalt, für Revolution, Befreiungskampf und Terror.

Unter dem Aspekt „Die Kunst heute ist Scheinwerfer und Waffe!“ hat Barbara Caveng mit ihrer archäologisch anmutenden Skulptur den Scheinwerfer auf das globale Problem von Krieg und alltäglicher Gewalt gerichtet. Bei Caveng hat Kunst nicht nur die Ausdrucksform einer Waffe, sondern ist ein subversives Werk der Anklage, das zugleich dokumentiert und provoziert. Ihr Werk wendet sich gegen die gesellschaftliche Neigung zur Lethargie und rettet die Aura der Kunst gegen den medialen Verschleiß der Bilder.

Die Künstlerin als Nomadin

In den Arbeiten von Barbara Caveng findet sich immer auch der Impuls, auf den Verlust der Utopie zu reagieren, sowohl in Bezug auf gesellschaftliche als auch künstlerische Utopievorstellungen. Es ist nicht zu übersehen, dass Kunst spürbar an Attraktivität eingebüßt hat, sie erscheint immer emotionsfreier und inhaltloser. Als „Betriebssystem Kunst“ hat sie sich im Status quo institutionalisiert ohne erkennbare Ambition, über diesen hinauszudenken. Demgegenüber setzt Caveng den Versuch, in ihren Bildwelten, Performances und Installationen mit Geduld und Konsequenz die Notwendigkeit einer Ästhetik des Experiments und der Existenz zu artikulieren. Zuletzt in ihrem Projektstipendium Kunst fürs Dorf. Dafür zieht die Künstlerin 2013 für sechs Monate in ein Dorf an der polnischen Grenze und erforscht in der Gemeinde Blankensee den vorfindlichen geographischen Raum und die dortigen sozialen Strukturen. Die Lebensgeschichten der Alteingesessenen erzählen von Flucht und Vertreibung, die Zugezogenen versuchen in ländlicher Umgebung heimisch zu werden. Der Wunsch anzukommen und bleiben zu können, das Bedürfnis nach einer gesicherten Existenz und die Frage nach Zugehörigkeit stellen sich im Dorf wie in der Stadt gleichermaßen. Die gemeinsam mit rund 200 der 600 Dorfbewohner realisierte Kunst schmeckt nach selbst gebackenem Blechkuchen, den die Tourismus AG im Kunstkiosk verkaufte, sie riecht nach dem frisch geschlagenen Holz der Holzbrigade, und sie fühlt sich an wie die weichen, abgenutzten Baumwollstoffe, aus denen die Nähwerkstatt (Identitäts-)Sonnenschirme im Patchworkstil nähte.2

Caveng geht ohne vorgefertigte Absicht an ihre Projekte heran, sie sei keine Sozialarbeiterin, sie betreibe vielmehr Feldforschung, erklärt sie. Die ursprünglich aus Zürich stammende und seit 1996 in Berlin lebende Künstlerin ist bekannt geworden mit partizipativen Projekten, bei denen sich Kunst und Leben zu einem Lebenskunstwerk verschränken. Ihre bekannteste – und häufig kopierte – Arbeit trägt den Titel Final Meals (2000), eine Fotoinstallation, für die sie die letzten Mahlzeiten von Todeskandidaten inszeniert hat. Viel beachtet war auch das Neuköllner Sozialparkett (2010), ein stilisierter Fußboden, der jetzt zur Sammlung der Berlinischen Galerie gehört.

In der Betrachtung von Cavengs Werk vermittelt sich ihr Verständnis von Kunst als militant und optimistisch, als realistisch und hoffend, als kritisch und utopisch. Ihr Kunstschaffen ist geprägt von einem partizipativen und interaktiven Ansatz, der sowohl den einzelnen Bürger als auch Netzwerke oder ganze Kunstkreise in die gemeinsamen Arbeitsprozesse integriert. Caveng als Künstlerin tangiert den Begriff der Utopie durch eine Wandlungslust, die in den Weiten des internationalen Kunstfeldes (Island, Südkorea, Syrien, Norwegen, Schweiz u.a.m.) sich temporär gegenwärtig macht. Als Nomadin kann sie ihr Zelt problemlos überall aufschlagen und ist an allen Orten gleichermaßen zu Hause wie fremd. Für die Philosophin Rosi Braidotti verfügen Nomadinnen über eine gewisse „taktische Schläue“, denn ihre Ortlosigkeit werde zur Beweglichkeit und diese wiederum zur kritischen Taktik.3 Soziale Räume – Dorf, Familie, Universität, Projekt, Medien, Kneipe usw. – sind je nachdem Oasen, Zwischenstopps, Ruheraum, Kampfarena, Spielfeld oder anderes mehr. Nie jedoch handelt es sich um ein Zimmer mit Ein- und Ausgang. Es gibt keine Tür und wenn doch, stünde sie immer offen und die Nomadin hätte sprichwörtlich meist einen Fuß dazwischen.

Die Idee einer sozialen Plastik und der Aspekt einer interkulturellen Verständigung durch Kunst tragen im Schaffen von Caveng dazu bei, dass die „Utopie des Zusammenlebens“ (so der Schweizer Philosoph Hans Saner4) im Kontext einer sich zunehmend etablierenden Globalkunst an Wert gewinnt. Wenn die kulturelle Vielfalt ein Merkmal der schweizerischen Identität darstellt, so bezieht sich das Schaffen von Caveng – bewusst und/oder unbewusst – auf das Moment des Zusammenlebens statt auf das eines Zusammenpralls unterschiedlicher Kulturen, Gemeinschaften und Weltbilder.

Furcht und Grausamkeit vermindern

Die Präsentation der nicht „ausgepinselten“ Anti-Kriegsskulptur Heaven Heaven Heaven im Rahmen des Werkleitz Festivals Utopien vermeiden (2013) erinnert daran, dass der das Leben der Gegenwart hierzulande bestimmende Liberalismus zum übergeordneten Ziel hat, die politischen Bedingungen in dem Maße zu sichern, wie sie für die Inanspruchnahme persönlicher Freiheit notwendig erscheinen. Die im deutschsprachigen Raum nahezu unbekannt gebliebene US-amerikanische Philosophin Judith N. Shklar begründet in ihrer zentralen Schrift Der Liberalismus der Furcht (2013 dt., 1989 engl.) einen alternativen Weg zum Liberalismus.5 Wichtig ist ihr der Aspekt, dass durch seinen institutionellen Mechanismus der Liberalismus das Potenzial birgt, das jeweils Schlimmste an Menschenverletzung verhindern zu helfen. Der von ihr definierte Ansatz hat nicht das Erreichen eines Ideals von einem wünschenswerten Gesellschaftszustand zur Grundlage, sondern deckt Möglichkeiten auf, wie für Menschen bedrohliche Zustände möglichst zu verhindern sind. Shklar lässt sich in ihren Überlegungen nicht von menschlichen Befindlichkeiten leiten, indem sie nicht dem Streben nach öffentlicher Freiheit Raum gibt, sondern fokussiert auf die Vermeidung von Furcht vor Grausamkeit, vor Zufügung von Leid und vor den Schrecken moderner Kriegsführung.

In dieser Überzeugung kommt zum Ausdruck, dass „den Regierungen dieser Welt, mit ihrer überwältigenden Macht zu töten, zu verstümmeln, zu indoktrinieren und Krieg zu führen, nicht bedingungslos zu trauen ist“.6 Das ist nun nicht als Plädoyer für eine schwache Regierung zu verstehen, sondern richtet sich eindeutig gegen alle außerhalb des Rechts stattfindenden Handlungen des Staates. Hier klingt an, einen liberalen Weg von unten her zu denken, von den ihre Rechte einfordernden Bürgern. „Wenn Bürger, zumal in einer Demokratie, einzeln und vereint handeln wollen, um gegen staatliches Unrechttun und Machtmissbrauch zu protestieren und ihm entgegenzutreten, brauchen sie ein gehöriges Maß an Selbstvertrauen, Sturheit und moralischen Mut, um sich wirksam behaupten zu können. Jeder Versuch von Bürgererziehung in einer liberalen Demokratie muss das Ziel haben, gut informierte und selbstbestimmte Erwachsene hervorzubringen.“7

Shklar argumentiert ausgehend von der Vermeidung der körperlichen Leiden des Menschen an sich. Moralische oder ideologische Grundüberzeugungen bleiben bewusst schwächer ausgeleuchtet. Gefühle werden von ihr nicht geringer geachtet als gesellschaftspolitische Ideen und der Versuch, diese umzusetzen. Der Grundgedanke ihres minimalistisch anmutenden Programms ist am besten beschrieben im Bestreben, menschliche Furcht und Grausamkeit zu vermindern und zu bannen. Dabei gelte auch, sich vor einer Gesellschaft furchtsamer Menschen zu fürchten. Furcht spielt im Denken von Shklar eine Doppelrolle: Es gilt zum einen, sie entscheidend zu schwächen, dazu aber ist zum anderen eben auch eine von Furcht in Gang gesetzte Vorstellungskraft hilfreich. Das lässt sich übertragen auf das hallensische Festivalmotto Utopien vermeiden: Um Utopien zu vermeiden, ist eine vom utopischen Impetus in Gang gesetzte Vorstellungskraft notwendig. Es erfordert Phantasie und überschießendes Denken, um Wirklichkeit und Möglichkeit von Utopien auszuloten.

Konkrete Utopie und Experimentalutopie

Ein Schlüsselsatz gleich zu Beginn des Aufsatzes bekennt sich zu einem dezidiert realistischen Liberalismus: „Jeder erwachsene Mensch sollte in der Lage sein, ohne Furcht und Vorurteil so viele Entscheidungen über so viele Aspekte seines Lebens zu fällen, wie es mit der gleichen Freiheit eines jeden anderen erwachsenen Menschen vereinbar ist.“8 Das schreibt sie, weil Furcht und Vorurteil zu allen Zeiten der Freiheit im Weg standen und meistens von Regierungen ausgingen. Shklar ist weniger geneigt, die Segnungen der Freiheit zu rühmen, als über die Gefahren der Tyrannei und des Krieges nachzudenken, die diese Segnungen bedrohen. Der Liberalismus der Furcht bietet kein Summum Bonum (höchstes Gut), nach dem alle politischen Akteure streben sollten, sondern geht von einem Summum Malum (größtem Übel) aus, das es nach Möglichkeit zu vermeiden gilt. Die Autorin konstatiert, dass der Liberalismus der Furcht universalistische, kosmopolitische, eklektische und nicht-utopische Forderungen stellt.

Hier nun treffen wir auf eine hohe Übereinstimmung mit dem Schaffen von Barbara Caveng, das geprägt ist von der Vorstellung einer universalistischen, kosmopolitischen und eklektischen Ästhetik. Wenn Shklar vom Nichtutopischen spricht, meint sie nicht etwa Anti-Utopie oder Utopielosigkeit, sondern verweist auf ein Verständnis von Utopie, die nicht bloß als Text und literarische Gattung existiert, sondern sich vor allem als dissidente Praxis und alternatives Leben erkennbar macht. Über die klassische Definition von Utopie (der Traum vom besseren Leben, der Entwurf einer idealen Gesellschaft) hinaus, bezeichnet der Begriff den Versuch, ein gesellschaftliches Potenzial jenseits des Gegebenen im Hier und Jetzt freizusetzen. Und das nicht auf abstrakter Ebene, sondern als „konkrete Utopie“ (Ernst Bloch).9

Produktiv ist der vom Philosophen Hans Saner verwendete Begriff „Experimentalutopie“, womit er Lebensformen meint, also genau genommen von Kulturen spricht. „Experimentalutopien sind Lebensformen, die sich dem Prinzip von Versuch und Irrtum aussetzen und sich so falsifizieren lassen oder sich bewähren.“10 Die Crux dabei ist für ihn, dass man dann zugleich in zwei Kulturen gestellt ist: in eine Rahmenkultur aller und in eine Binnenkultur weniger. Das bedeutet, dass die Binnenkultur sich immer in einen ihr fremden Rahmen versuchen muss einzupassen. „Man lebt dann im eigenen Land ungefähr so, wie Fremde bei uns leben: in der Gemeinschaft anders als in der Gesellschaft.“11

Utopisches Denken als Kritik des Bestehenden

Obschon sehr unterschiedlich in ihren Betrachtungsweisen von Welt und Gesellschaft, fanden Ernst Bloch und Theodor W. Adorno im Dialog über die Wirkkraft der Utopie in einem Rundfunkgespräch (1964) erstaunlicherweise einmal zueinander: „Und ich glaube, Teddy, hierin sind wir uns allerdings einig: Die wesentliche Funktion, die dann Utopie hat, ist eine Kritik am Vorhandenen. Wenn wir die Schranken nicht schon überschritten hätten, könnten wir sie als Schranken nicht einmal nehmen.“ Adorno erwidert: „Ja, die Utopie steckt jedenfalls wesentlich in der bestimmten Negation, in der bestimmten Negation dessen, was bloß ist, und das dadurch, dass es sich als ein Falsches konkretisiert, immer zugleich hinweist auf das, was sein soll.“12

Bloch ist mit seinen Büchern Der Geist der Utopie und Das Prinzip Hoffnung ein wesentlicher Fürsprecher utopischen Denkens, während Adorno sich radikal dagegenstellt und sich dem „Auspinseln“ der besseren Zukunft verweigert. Adornos „Bilderverbot“13 basiert auf der Erkenntnis, dass wir alle in gesellschaftliche Verhältnisse so vollständig verwoben sind, dass es gar nicht möglich ist, das Andere und Neue in all seinen Dimensionen zu denken. Unfreiheit lässt sich kritisieren. Aber was ist Freiheit? Diese Frage einer klaren Antwort zuführen zu wollen, muss scheitern. Was möglich bleibt, ist die schrittweise Annäherung an die Bedeutung und Substanz des Begriffs. Auch Bloch wendet sich gegen ein fertiges Auspinseln, aber nicht gegen jegliches Auspinseln.

Sich utopisches Denken zu gestatten, heißt sowohl für Bloch als auch für Adorno, sich nicht mit dem abfinden, was ist. Dem stimmt Hans Saner zu und gibt zugleich zu bedenken: „Utopisches Denken ist unweigerlich Kritik des Bestehenden, sei es nun, indem es diesem eine positive Alternative entgegenhält oder es selber bis ins Katastrophale negativ verdeutlicht und extrapoliert. Aber es ist nicht Kritik allein. Es ist auch Gedankenspiel, Kunst, Konstruktion, Erfinden des Neuen, Denken des bisher Ungedachten, Traum und Vision. Wer allein die kritische Funktion der Utopie sieht, instrumentalisiert die Utopie radikal. Dann wird sie schwach und in der Regel banal.“14

Die Sehnsucht, im realen Leben ein ideales Leben verwirklichen zu wollen, ist dem Menschsein untilgbar eingeschrieben. Doch die philosophischen Konstrukte betrachten das ideale Sein als einen klaren Gegensatz zum realen Sein. Dieses sei zeitlich, individuell, prozesshaft; das ideale Sein dagegen zeitlos, allgemein, unveränderlich. Saner spricht davon, dass die Utopie nur als Text ideales Dasein abzubilden vermag, als Experiment ist sie reales Dasein. „Als reales Dasein kann sie um die Spannungen und Brüche nicht herumkommen, weder um die Sterblichkeit noch um die Zufälligkeit noch um das Leiden. Aber sie ist mit der Hoffnung verbunden, dass sich Gewalt im Zusammenleben minimieren lässt, und dass das Leiden in der Gemeinschaft der Solidarität begegnet.“15

Saner und Shklar weisen eine Nähe auf, wenn der Schweizer Denker im Gespräch erklärt: „Im Zentrum meines Nachdenkens über Utopien steht die Frage: Wie können wir zusammenleben, obwohl wir verschiedene Kulturen tradieren und auch noch neue schaffen? Die Antwort lautet: Es ist möglich, wenn wir eine liberale Rahmenkultur haben und innerhalb dieser Raum für Gemeinschaftskulturen ist, die dann traditionell oder utopisch sein können.“16

Utopie als Auszugsfigur für Wandlung

Mit der Selbstauflösung des Sowjetsystem ging ein gesellschaftspolitisch angelegtes Experiment bankrott, das, wie der in Wien lebende deutsche Philosoph, Bloch- und Utopie-Experte Burghart Schmidt schreibt, zutiefst antiutopisch war, „indem es Bürger seiner Staaten in die Gefängnisse und psychiatrischen Kliniken schickte mit der Anklage des Verbrechens einer utopischen Abweichung vom Sozialismus“.17 Im siegreichen Kapitalismus und Liberalismus hat sich „das Utopische wieder erholt unter Namen des Visionären, des Imaginativen, des Kreativen“.18 Mit dem Aufstieg der kreativen Klasse, konstatiert Schmidt, ging die Utopie erst recht unter, nämlich „nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung in der kritischen Funktion, die sie verlor“.19

Die durch Edward Snowden aufgeflogene Spionageaffäre um die National Security Agency (NSA) pervertiert die kalifornische Utopie des Silicon Valley von der Hippie-Kultur der 1970 Jahre und Marshall McLuhans Vision einer durch Technik befreiten Gesellschaft zu einer Herrschaft der Technologie. Der Traum einer Ökotopia, einer grünen Industrie und Gegenkultur aus freizügiger Sexualität und basisdemokratischem Alltag mutiert zum Überwachungssystem einer Datatopia aus Chips und Bits und zu einer durch Pornografisierung und „Gefällt mir“-Meinungsäußerung dominierten Lebenswelt. Die Hoffnung auf die Verwirklichung libertärer Ideale wie Freiheit, Gleichheit und Solidarität hat sich längst nicht erfüllt. Dem bedachtsamen Utopisten, was als Haltung der Kunstpraxis von Barbara Caveng entspricht, schwebt eine gerechtere Demokratie vor, die das Gemeinsame ihrer Bürger nicht über das Eigentum, sondern über die Beziehungen bestimmt, die sie – wieder – miteinander pflegen. Die Künstlerin sieht die Bedingungen für die Entwicklung eines „Heimatgefühls“ daran geknüpft, dass „Menschen sich als aktives Glied innerhalb eines sozialen Netzes und einer Gesellschaft empfinden. Das erachte ich als etwas Wichtigeres als die Verbundenheit zu einem Ort“.20 Utopisches Handeln heißt, einen Faden in das Netz der Beziehungen einzuweben und dann die Ungewissheit darüber auszuhalten, was sich daraus entwickeln könnte.

Wichtig ist, wie Schmidt als langjähriger Mitarbeiter von Ernst Bloch erinnert, dass die Utopie nach der Bloch-Bestimmung eine Auszugsfigur ist, die aus sich auszieht. Utopisches Dasein bewegt sich demnach auf einer Ebene ohne vorgefestigten Plan, sondern im Gegenteil auf einer Fluchtlinie im Sinne eines Exodus. Exodus heißt, die Bedingungen zu verändern, unter denen sich ein Konflikt entfaltet, anstatt sich ihnen zu unterwerfen. Die Occupy-Bewegungen des Jahres 2011 sind ein solcher Exodus: In der prekären Situation der Besetzung von zentralen Plätzen werden neue soziale Beziehungen, neue Lebensformen, neue Organisationsformen als aktive Formen der Flucht entwickelt. Flucht meint hier somit Verlagerung, Verschiebung, Abweichung, Wandlungsfähigkeit. Hanno Rauterberg hat das pointiert zusammengefasst: „Die Stadt wird zum Labor für alle, die nicht länger an große Utopien glauben, aber daran, dass sich die Gegenwart zum Besseren verändern lässt. ...Sie gilt als der richtige Ort des Räsonnements über alles, was wichtig ist. Die Stadt wird zum Brennpunkt eines erhofften Aufbruchs.“21 Der Taksim-Platz in Istanbul, der Maidan in Kiew, die Ratchadamnoen Avenue in Bangkok oder die schwedische Trabantenstadt Husby: Sie alle haben 2013 ihre politische Unschuld verloren. Die Protestierer haben diese Orte in neue Geschichten verstrickt. Selbst wenn die erwünschten Veränderungen nicht eingetreten sind, wurden diese Orte in Mahnmale eines konkret utopischen Aktionsgeistes verwandelt.

Burghart Schmidt erklärt: „Das heißt, die Utopie wandelt sich als Leitmotiv des Handelns in ihrer Realisation, der Plan nicht. ...Die Wandlung in Sachen Utopie gehört geradezu zu ihrem Wesen, weil sie ganz und gar aus der Handlungsmotivation heraus- und in sie hineinlebt und alles sozial-politische Handeln etwas anderes ist als Planungsvollzug.“22 Mit der gleichen intellektuellen Bescheidenheit, wie ein „Liberalismus der Furcht“ postuliert wird, muss auch „die Utopie bescheiden werden auf allen ihren Gebieten“.23 Es ist Schmidt, der hellsichtig erkennt, dass es nicht darum gehen kann, Utopien zu vermeiden, sondern im Gegenteil zu begreifen, dass die Utopie „ständig an ihrem Neubeginn“ steht, „und das mit nachhaltiger Zähigkeit im Ausgleich zu ihrer eingetretenen Bescheidenheit“.24

Jede Kunst hat etwas von einer Utopie im Urzustand, in ihr kann sich Utopie als Lebensform abzeichnen. In Werke und Lebenskunstwerke25 eingebettete Utopien sollten nicht als Illusion verstanden werden, die an der Verwirklichung scheitern, sondern als Wunschorte, in denen sich ein Gelingen zu einem Besseren realisieren kann. Die utopische Installation Heaven Heaven Heaven von Barbara Caveng formt mit Menschenknochen den Gewaltaspekt sozialen Zusammenlebens nach und ist zugleich unterlegt vom ideellen Anspruch, Leid und Grausamkeit zwischen den Menschen zu vermeiden. Beim Anblick der Knochen-Kalaschnikow bleibt die Hoffnung, dass den Betrachtern ein Licht aufgehen wird. Die Utopie als Vorstellungskraft führt zur „Veränderung des Ganzen“ (Adorno26) und zur „Sprengung der bestehenden Gesellschaft“ (Bloch27). Das Ganze, das meint: Alles und noch viel mehr.

Paolo Bianchi

1 Friedrich Wolf, Kunst ist Waffe! Hier zitiert nach: http://www.litde.com/textsammlung-zur-deutschen-literaturgesch... (Zugriff: 4.2.2014)

2 Die sechsteilige arte-Dokumentation zum Projekt kann online angesehen werden: http://dorf.creative.arte.tv/de/show (Zugriff: 6.2.2014)

3 Vgl. Rosi Braidotti, Nomadic Subjects. Embodiment and Sexual Difference in Contemporary Feminist Theory. New York 1994.

4 Hans Saner. Gespräch über die Utopie. Experimentalutopie als Lebensform für Gemeinschaften. Fragen von Paolo Bianchi.In: Kunstforum International, Bd. 143 (1999), S. 74–79.

5 Vgl. Judith N. Shklar: Der Liberalismus der Furcht. Herausgegeben, aus dem Amerikanischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Hannes Bajohr. Berlin 2013.

6 Ebd., S. 46.

7 Ebd., S. 53 f.

8 Ebd., S. 26 f.

9Vgl. zum Begriff „konkrete Utopie“ folgenden Eintrag im Web: http://de.wikipedia.org/wiki/Konkrete_Utopie (Zugriff: 4.2.2014)

10Saner, S. 78.

11 Ebd.

12 Theodor Adorno und Ernst Bloch. Möglichkeiten der Utopie heute (SWF 1964), hörbar und online verfügbar unter:https://archive.org/details/AdornoErnstBloch-MglichkeitenDerUt... (Zugriff: 4.2.2014)

13 Vgl. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik. Frankfurt am Main 1966/2003.

14Saner, a.a.O., S. 75.

15Ebd., S. 79.

16 Ebd.

17 Burghart Schmidt, Wie geht es der Utopie heute, 2010? Ein Nullsummenspiel? In:Konstruktiv, Nr. 277 (2010), S. 24–25, hier S. 24.

18 Ebd.

19 Ebd.

20 Barbara Caveng in einer Email vom 13. Februar 2014 an den Verfasser.

21 Hanno Rauterberg, Wir sind die Stadt! Urbanes Leben in der Digitalmoderne. Frankfurt am Main 2013, S. 12 f.

22 Schmidt, a.a.O., S. 24.

23 Ebd., S. 25.

24 Ebd., S. 25.

25 Vgl. zu Begriff und Phänomen des Lebenskunstwerks folgende Publikationen: Paolo Bianchi (Hg.), Lebenskunst als Real Life. Ruppichteroth 1999. In: Kunstforum International, Bd. 143 (1999). Und: Paolo Bianchi (Hg.), Lebenskunstwerke (LKW). Ruppichteroth 1998. In: Kunstforum International, Bd. 142 (1998).

26 Adorno zitiert nach: Theodor Adorno und Ernst Bloch. Möglichkeiten der Utopie heute (SWF 1964), wie Fußnote 13.

27 Ernst Bloch, Abschied von der Utopie? Vorträge. Herausgegeben von Hanna Gekle. Frankfurt am Main 1980,S. 17.

Paolo Bianchi

Installation, Nachbildung im Maßstab 1:1 des Kalaschnikow Sturmgewehrs AK-47 (AK= Awtomat Kalaschnikowa) aus Menschenknochen, 87 cm Länge

Heaven Heaven Heaven

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