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Dream Cargoes
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Die Erde ist ein aufgegebenes Schiffswrack in den unendlichen Weiten des Weltalls. Ein einziger Mensch ist zurückgeblieben und wird Zeuge einer wundersamen Verwandlung des Planeten – eines Erblühens aus toxischen Substanzen, des Entstehens neuer Lebensformen aus Bio- und Nanotechnologie sowie halb-entwickelter KI, kurz: eines neuen Garten Eden.
Die Handlung dieser von J. G. Ballard inspirierten audiovisuellen Performance wird durch die Augen des Protagonisten gesehen, der in eine zunehmend psychedelische Landschaft eintaucht – visuell umgesetzt durch Lucy Benson und Marcel Weber.
Aus analog und algorithmisch manipuliertem Filmmaterial formen sie eine neue Welt, in der die gewohnten Umrisse der Wirklichkeit zusehends mutieren, verschwimmen, sich auflösen.
Die musikalische Komponente wird von Roly Porter und Keith Fullerton Whitman verfasst, die Streichinstrumente und modulare Synthesizer gegeneinander arbeiten lassen. Eine neue Evolution wird in Gang gesetzt – als ewiger Wettstreit zwischen Synergie und Chaos.
Dream Cargoesist eine Co-Commission von Werkleitz mit dem Unsound Festival in Kraków.
Interview
Ein Interview zwischen Sandra Naumann, Kuratorin des Performance Programms, den Videokünstlern Lucy Benson und Marcel Weber sowie dem Musiker Roly Porter vom Projekt Dream Cargoes.
Sandra Naumann: Als wir zum ersten Mal über eine Auftragsarbeit für Utopien vermeiden gesprochen haben, fiel sehr schnell der Name J. G. Ballard, der für seine dystopischen (Science-Fiction-)Romane und Kurzgeschichten bekannt ist. Seine Kurzgeschichte Dream Cargoes (Traumfracht) handelt von einem jungen Seemann, der ein vor sich hin rostendes, mit giftigen Chemikalien beladenes Schiff zu einer verlassenen Insel steuert und dort Zeuge wird, wie die Natur aufbricht und aus dem Giftmüll neue Lebensformen hervorgehen. Wie seid ihr auf Ballard und diese Geschichte gekommen? Und was hat euch daran interessiert?
Marcel Weber: Wir hatten ganz unterschiedliche Ansätze für das Konzept, und mich hat insbesondere die Zukunft der verschiedenen Biotechnologien und Hybriden interessiert, die der Mensch derzeit entwickelt – ich denke da an Nanobots, synthetische Materialien, autonome Satelliten und künstliche Intelligenz. Sie werden einmal unser Erbe ausmachen.
Lucy Benson: Ich habe mich viel mit der Frage beschäftigt, was wohl passieren wird, wenn wir beginnen, die Sterne, die bislang für uns eine Inspirationsquelle für Gedanken, Sehnsüchte und Träume waren, materiell auszubeuten. Welche kulturellen und persönlichen Auswirkungen wird das auf uns haben? Nachdem wir schon eine ganze Weile über zukünftige Entwicklungen und die Ausbeutung der Planeten nachgedacht hatten, fühlten wir uns irgendwann an jene Geschichte von Ballard erinnert, die ein paar interessante Parallelen zu unserem Konzept aufweist, wenn auch der Schauplatz ein komplett anderer ist. Die Geschichte lieferte einen schönen Erzählrahmen für unser Stück und noch dazu einen alternativen Ansatz, um über diese Themen nachzudenken. Wir erzählen aber Ballards Geschichte nicht nach.
SN: Man kann Dream Cargoes als Metapher für eine posthumane Welt aus spekulativen Organismen deuten, die sich aus der Kombination von organischer und synthetischer Materie entwickeln. Spiegelt sich das Zusammenspiel des Organischen mit dem Synthetischen in der künstlerischen Umsetzung wider?
MW: Ja, die Grundidee war, dass die traditionelle Trennung zwischen organisch und synthetisch, lebendig und künstlich, in der Zukunft vollkommen aufgehoben sein wird. Im Video wird diese Evolution dargestellt. Zunächst sehen wir die Welt mit den Augen eines menschlichen Beobachters, bis nach und nach etwas Unbegreifliches daraus entsteht.
LB: Wir hatten uns schon sehr früh überlegt, dass die Struktur der Performance diese Evolution widerspiegeln sollte, also die Entwicklung von einem eher menschlichen Zustand bis zu etwas, das weit darüber hinaus ins Posthumane geht. Und das sollte nicht nur mit visuellen Elementen erzählt werden, sondern sich entschiedener noch in der Struktur des Soundtracks wiederfinden. Dazu wollten wir zwei Musiker zusammenbringen, von denen wir wussten, dass ihre Arbeiten diese beiden Ideen verkörpern und das Stück über unsere eigenen Erwartungen hinaus bereichern würden. Beide sind großartige Musiker mit sehr unterschiedlichen kreativen Ansätzen, und es war für uns eine Ehre, diesen zusätzlichen Input zu bekommen.
SN: Was war euer Ansatz bei der Entwicklung der visuellen Ästhetik für Dream Cargoes? Und wie habt ihr die Bilder gemacht?
LB: Bei der anfänglich posthumanen Landschaft war es wichtig, sie frei von jeglichen Mineralien, Wasser oder sonstiger organischer Materie darzustellen. Hier haben mich die Bilder des Curiosity Mars Rovers inspiriert. Sie bieten augenscheinlich einen Blick auf die Zukunft unseres Planeten, wirken aber gar nicht so außerirdisch, wie man denken könnte.
Mit Unterstützung von Werkleitz reisten wir nach Island, um dort in der vulkanischen Landschaft das Bildmaterial zu drehen. Wir fanden eine perfekte Mischung aus Schönheit, Einsamkeit und einer Stimmung stummer Feindseligkeit. Die zunehmend abstrakter werdende Bildsprache, die synthetischen Lebensformen und die Darstellung der Evolution entwickelten sich aus unseren Recherchen in der Nano- und Biotechnologie und dem Experimentieren mit generativen Bildgebungsverfahren, mit denen wir die Idee der ungezügelten Evolution auf unser Arbeitsmedium übertragen wollten.
SN: Marcel und Lucy, ihr habt das Projekt gemeinsam konzipiert. Wie sind Roly und Keith dazugekommen?
MW: Roly ist bekannt für seine gewaltigen Kinosoundtracks und schien uns von daher bestens geeignet, um den öden, ausgebeuteten Planeten musikalisch zu umschreiben. Dass er mit einem Streichquartett zusammenarbeiten wollte, war eine zusätzliche Bereicherung für diesen ersten Teil des Stücks. Und die Streicher sind dann auch – wie wir uns das vorgestellt hatten – ganz aufgegangen in der musikalischen Überblendung von Roly zu Keith.
Keiths Arbeit mit komplexen Synthesizer-Sounds dagegen lieferte den idealen Ausdruck für das Zukunftsszenario. Die Komplexität seiner Setups, die unendlichen Möglichkeiten der Schaltkreise und die oszillierende Energie, die dadurch freigesetzt wird, muten wie eigene künstliche Lebensformen an und kommen damit dem, was man sich unter einem unbegreiflichen akustischen Garten Eden jenseits des menschlichen Daseins vorstellt, wahrscheinlich am nächsten.
Wir hatten Glück, dass beide das Projekt so interessant fanden, dass sie mit uns zusammenarbeiten wollten!
SN: Das Stück besteht visuell und musikalisch aus zwei Teilen. War das von Anfang an so vorgesehen, oder war es das Ergebnis unterschiedlicher musikalischer Herangehensweisen? Hat es vielleicht auch mit dem zuvor erwähnten Gegensatz zwischen organisch und synthetisch zu tun? Außerdem ist Keiths Part mehr oder weniger improvisiert, während dein Part, Roly, eine fertige Komposition darstellt. Bei diesen kontrastierenden Ansätzen denke ich sofort an Begriffe wie „Chaos“ und „Ordnung“ ...
Roly Porter: Ja, das ist eine mögliche Interpretation der zugrunde liegenden Idee. Die Unterschiede in Keiths und meinem Stil und unserer Performance sollen gezielt die verschiedenen Kapitel der Erzählung repräsentieren. Das Stück beginnt mit einer Komposition, gespielt von mir und einem Streichquartett. Die Musik ist sehr langsam und karg, mit einfach ausgearbeiteten Ideen. Sie soll die Skala der ersten Kapitel komplementieren. Ausgedehnte offene Landschaften und eine gewisse Melancholie, ja Einsamkeit, als würde das alles aus einer einzigen Perspektive erlebt. Die Musik von Keith bildet die perfekte Antithese dazu. Mit frenetischen, improvisierten, rein elektronischen Klängen passt seine Musik sich der Wendung in der Geschichte an, in der durch gewaltige Ausbrüche neue Evolutionsformen entstehen.
SN: Roly, auf deinem Album Aftertime hast du dich bereits mit der Idee des Posthumanen und mit Sci-Fi beschäftigt. Auf deinem letzten Album Life Cycle of a Massive Star geht es um Außermenschliches und die Sterblichkeit allen Seins. Was interessiert dich an diesen Fragen?
RP: Die meisten meiner Soloarbeiten scheinen sich mit diesen Themen zu beschäftigen. Damit will ich nicht beeinflussen, wie die Leute meine Musik hören. Jeder soll sie für sich selbst interpretieren. Das hat eher mit meinem Verhältnis zu meiner eigenen Musik zu tun oder mit den Dingen, über die ich nachdenke, wenn ich meine Musik schreibe. Jede Art von Musik, auch die eigene, kann eine Flucht vor der Gegenwart sein. Viele Science-Fiction-Ideen vermitteln ein Gespür für Zeit und Raum, das uns im Alltag oft abgeht. Mir gefällt, wie zerbrechlich und flüchtig wir uns vorkommen, wenn wir in diesen Größenordnungen denken. Und das Hören oder Schreiben von Musik verstärkt diese Gedanken bei mir.
SN: Ein weiteres oft in Verbindung mit Utopien genanntes Konzept ist das des Kollektivs. Was haltet ihr von kollektivem künstlerischem Schaffen? Ihr habt alle schon öfter mit einem oder mehreren Künstlern und Musikern zusammengearbeitet. Was reizt euch an dieser Art der Kooperation?
RP: Elektronische Musik zu schreiben, kann eine ziemlich einsame Erfahrung sein. Ich habe viel Zeit damit zugebracht, allein zu arbeiten und noch dazu mit einer begrenzten Anzahl von Geräten oder Computerprogrammen. Ich arbeite gern mit anderen zusammen, nicht nur mit anderen Musikern. Das Projekt Dream Cargoes bot mir eine wunderbare Gelegenheit dazu. Ich hatte vorher schon mit Lucy und Marcel zusammengearbeitet und mag ihre Arbeiten. Es war faszinierend, ihnen bei der Vorbereitung des Videos zuzusehen, und was dabei herauskam, war wunderschön. Mit Keith zu arbeiten, ist großartig, aber ich leide unter schrecklichem Technik-Neid! Ich will all seine Geräte haben. Ich arbeite schon viel zu lange mit Musik-Software, und das modulare Setup, das Keith benutzt, ist das genaue Gegenteil davon. Es ist analog, praktisch und unmittelbar, eine echt aufregende und inspirierende Arbeitsweise. Und dann noch das Streichquartett. Sie spielen alle ausgezeichnet. Und es ist ein großes Vergnügen zu hören, wie die eigene Komposition von realen Menschen zum Leben erweckt wird und über die Grenzen der elektronischen Umgebung hinauswächst, in der sie geschaffen wurde.
Man sollte meinen, dass gemeinsames Arbeiten den Einzelnen davon abhält, sein künstlerisches Ziel zu erreichen, weil so viele widersprüchliche Ideen aufeinandertreffen. Aber als jemand, der es gewohnt ist, allein zu arbeiten, empfinde ich die Energien und Herausforderungen, die entstehen, wenn man diese Ideen kombiniert, fast immer als wohltuend und vorteilhaft.