Das Futuristische Manifest (opera digitale) Zurück aus der Zukunft

DE 2009

„Ich wandle unter Menschen als den Bruchstücken der Zukunft: jener Zukunft, die ich schaue.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra1

Das letzte Geräusch ist verstummt. Splitter sind wie in Zeitlupe zu Boden gefallen, und der Staub hat sich gesetzt. Luftleerer Raum. Stille. Das Fehlen von Licht. Bilder der Explosion vor dem inneren Auge. Langsames Schweben – Schwerelosigkeit. Schwarz. Das Fehlen von Bewegung, Bewegungslosigkeit wie am höchsten Punkt einer Flugparabel. Die Sterne am Himmel, denen schon Marinetti zurief. Dann kaum wahrnehmbares Absinken durch sonische Sedimentschichten. Der Blick zurück auf die ehrwürdigen Städte, die niedergerissen wurden.

Eine Stimme spricht in fiebriger Schlaflosigkeit. Eine Geisterstimme, die sich durch ein menschliches Medium artikuliert. Die weibliche Stimme klingt metallisch, sie changiert zwischen der eines Maschinenmenschen und eines Außerirdischen. Es scheint der Futurist Filippo Tommaso Marinetti zu sein, der spricht. Er repetiert halb erinnerte Fragmente seines 1909 in Le Figaro publizierten Futuristischen Manifests. Wie in einem Fiebertraum kehren diese Worte nun, nach genau einhundert Jahren, auf unheimliche Weise wieder, um zu einer rückblickenden Beschreibung der Welt zu werden: „Die Schönheit der Geschwindigkeit / Die angriffslustige Bewegung / Fiebrige Schlaflosigkeit / Salto Mortale / Die große Menschenmenge / Die lustigen Brandstifter mit ihren verkohlten Fingern / Legt Feuer an die Regale der Bibliotheken / Zeit und Raum sind gestern gestorben / Die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit / Wir wollen den Krieg verherrlichen / Die Verachtung / Wir wollen die Museen zerstören / Unsere Nachfolger ... von weit her werden sie kommen / Aber wir werden nicht da sein / Sie werden uns schließlich finden / in einer Winternacht / auf offenem Feld, unter einem traurigen Hangar, auf den ein eintöniger Regen trommelt / Sie werden uns alle lärmend umringen, vor Angst und Bosheit keuchend / Heftigkeit, Grausamkeit und Ungerechtigkeit / Aufrecht auf dem Gipfel der Welt schleudern wir noch einmal unsere Herausforderung den Sternen zu.“2

Bis heute löst das Futuristische Manifest ambivalente Reaktionen aus. Der Grund dafür ist wohl die doppel- bzw. mehrdeutige Haltung Marinettis hinsichtlich der von ihm beschriebenen Phänomene3: Handelt es sich um das unbändige Herbeisehnen einer ,reinigenden Gewalt‘ („Krieg – die einzige Hygiene der Welt“)4 oder liefert er ,nur‘ eine zynische Zustandsbeschreibung der Welt – oder handelt es sich gar um eine warnend visionäre Beschreibung dieser Welt (der immerhin noch zwei Weltkriege bevorstanden)? Im letzten Drittel des Manifests wird in nüchtern konstatierendem Tonfall beschrieben, wie die Futuristen von ihren Nachfolgern, der zweiten, noch grausameren Generation der Futuristen, vernichtet werden – eine logische Konsequenz des futuristischen Denkens. Dieses Changieren zwischen heißem Wunsch, nüchtern zynischer Beschreibung und hellsichtiger, gar warnender Vision erinnert an Nietzsches ambivalente Beschreibung Zarathustras: „Und auch ihr fragtet euch oft: ,Wer ist uns Zarathustra? Wie soll er uns heißen?‘ Und gleich mir selber gabt ihr euch Fragen zur Antwort. Ist er ein Versprechender? Oder ein Erfüller? Ein Erobernder? Oder ein Erbender? Ein Herbst? Oder eine Pflugschar? Ein Arzt? Oder ein Genesener? Ist er ein Dichter? Oder ein Wahrhaftiger? Ein Befreier? Oder ein Bändiger? Ein Guter? Oder ein Böser?“5

In seiner Oper Das Futuristische Manifest befragt Thomas Köner den Chef-Futuristen Filippo Tommaso Marinetti. Er befragt ihn zum gegenwärtigen Zustand der Welt, und er zieht hierfür den Text des Futuristischen Manifests als Kronzeugen heran. Thomas Köner liest das Manifest gleichsam als Zustandsbeschreibung unserer heutigen postindustriellen Welt. Diese Gesellschaft befindet sich weit jenseits des Gipfels, von welchem aus die Futuristen ihre Herausforderung den Sternen zuschleuderten. Letztendlich hat sich all das realisiert, was das Manifest vorausgesagt hat. Wir Futuristen haben uns heute als heftiger, grausamer und ungerechter als unsere Vorgängergeneration erwiesen – gegen den Menschen, gegen die Natur, gegen die Moral. Wir sind diejenigen, die die logische Konsequenz des futuristischen Denkens verkörpern – und die Marinetti hat kommen sehen.

Mit den russischen Kulturtheoretikern Boris Groys und Michail Ėpštejn könnte man sagen, dass wir – als Zeitgenossen und Publikum von Thomas Köners Oper – nun aus einer Zeit der radikalen, gar militanten Ultra-Moderne (nämlich all dessen, was die Futuristen vorausgesehen haben) in die Gegenwart zurückkehren.6 Diese post-utopische oder post-futuristische Rückkehr aus der Zukunft ist eng verknüpft mit einem Perspektivwechsel: „In revealing the indeterminateness of meaning in the classical texts of the past, deconstruction reveals itself to be the mirror image of avant-garde constructivism, which posited rigid and absolute meanings in an as yet unconstituted future.“7 Die Dekonstruktion – die auch in Thomas Köners Oper am Werke ist – betrachtet die Vergangenheit als prinzipiell unbestimmt, unverständlich und polysemisch – d.h. als prinzipiell offen. Und entdeckt so potentielle Momente der Differenz und des Widerständigen in der Vergangenheit – in diesem Fall in Marinettis Manifest.

Jenseits des verwendeten Sprachmaterials geben die in der Oper eingesetzten Videos einen visuellen Eindruck von Marinettis Rückblick auf das 20. Jahrhundert. Auch in diesem Medium fällt die extreme Verlangsamung auf, der das Bildmaterial unterworfen wird. Das Verlangsamen, das Anhalten, das Einfrieren ist für Thomas Köner die ultimative Utopie, die auch in seinen anderen Arbeiten von großer Relevanz ist. Mit diesen (visuellen wie auditiven) Aufnahmetechniken macht er etwas wahrnehmbar, das normalerweise nicht wahrnehmbar ist – etwas, das Walter Benjamin 1931 in seiner Kleinen Geschichte der Photographie als „Optisch-Unbewusstes“ bezeichnet hat. Dieses Optisch-Unbewusste ist eine unbewusste Dimension der materiellen Welt, die normalerweise vom gesellschaftlichen Bewusstsein des Menschen herausgefiltert wird und somit unsichtbar bleibt, die aber durch den Einsatz mechanischer Aufnahmetechniken sichtbar gemacht werden kann: „Ist es schon üblich, dass einer, beispielsweise, vom Gang der Leute, sei es auch nur im groben, sich Rechenschaft gibt, so weiß er bestimmt nichts mehr von ihrer Haltung im Sekundenbruchteil des ‚Ausschreitens‘. Die Photographie mit ihren Hilfsmitteln: Zeitlupen, Vergrößerungen erschließt sie ihm. Von diesem Optisch-Unbewussten erfährt er erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewussten durch die Psychoanalyse.“8 Hinsichtlich Thomas Köners Arbeit könnte man vielleicht in Anlehnung an Benjamin auch von einem ,Sonisch-Unbewussten‘ sprechen, von einer gegen den Kult der „allgegenwärtigen Geschwindigkeit“ gerichteten Utopie der Langsamkeit, die uns an den Beginn der Oper zurückführt. In der mit „Die Tore des Unmöglichen“ betitelten Ouvertüre heißt es: „Ein futuristischer, riesenhafter Taktstock zählt einen Takt vor und gibt dem Orchester das Tempo an: 4 bpm (beats per minute).“ Ein Takt, an den wir heutigen Futuristen uns wohl in Zukunft gewöhnen müssen.

Inke Arns

1 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen. Stuttgart: Reclam 1985, S. 131-132.

2 Thomas Köner, Das Futuristische Manifest. Opera digitale, Skript, WDR3, 2009.

3 Zur „Janusköpfigkeit“ des italienischen Futurismus vgl. Reinhard Brenneke, Militanter Modernismus. Vergleichende Studien zum Frühwerk Ernst Jüngers. Stuttgart: M&P 1992.

4 Filippo Tommaso Marinetti, Das Futuristische Manifest. In: Le Figaro, Paris, 20.02.1909; aufgerufen 08.20.09, http://www.kunstzitate.de/bildendekunst/manifeste/futurismus.htm

5 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen. Stuttgart: Reclam 1985, S. 131-132.

6 Groys und Ėpštejn haben das freilich auf den post-kommunistschen Raum bezogen. Vgl. Boris Groys, Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion. München: Hanser 1988; Mikhail N. Ėpštejn, After the future: the paradoxes of postmodernism and contemporary Russian culture. Amherst, Mass. 1995; Inke Arns: Objects in the mirror may be closer than they appear! Die Avantgarde im Rückspiegel. Zum Paradigmenwechsel der künstlerischen Avantgarderezeption in (Ex-) Jugoslawien und Russland von den 1980er Jahren bis in die Gegenwart. Phil.-Diss. Humboldt-Universität zu Berlin 2004, http://edoc.hu-berlin.de/dissertationen/arns-inke-2004-02-20/P...

7 Ėpštejn 1995, S. 330.

8 Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie. In: Ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, S. 50.

Inke Arns

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