Übergordnete Werke und Veranstaltungen
After the Never Existing (Vision of a Utopian Slum Center) / Dead Adv (Visual Aid No. 4a)
Personen
Media
Die DEEP TIME RUINE VON Tamás Kaszás
Ein Anagramm zu UTOPIEN VERMEIDEN**
Es war Zufall, dass beide Ausstellungen zur gleichen Zeit an gleichem Ort, nur wenige hundert Meter voneinander entfernt stattfanden: Utopien vermeiden, die Ausstellung des Werkleitz Jubiläums Festivals in der Technikhalle auf dem Holzplatzareal, und die von Moritz Götze und Peter Lang kuratierte thematische Gruppenausstellung Gewissheit, Vision: Francke von heute aus gesehen1 im „Historischen Waisenhaus“ der Franckeschen Stiftungen zu Halle. Als seien es zwei Paralleluniversen, die der Möglichkeit nach nichts voneinander zu wissen brauchten, verwiesen doch beide Ausstellungen in Details immer wieder auf den thematischen Fokus der jeweils anderen, verwandten, doch verschiedenen: Hier die Utopie, dort die Vision.
Auf Vinylschallplatte war bei der „visionären“ Ausstellung im Waisenhaus die Stimme des Architekten Philipp Oswalt zu hören, Direktor der Stiftung Bauhaus Dessau, der die „Utopie der Erderwärmungsbegrenzung um zwei Grad Celsius“ als „großes Konservierungsmodell“ besprach (und genau in diesem Sinn als Version einer zeitgenössischen Utopie, die keine „Utopie der Erneuerung“ mehr sein kann).2 Und auf dem Holzmarkt, gegenüber der „utopisch“ ausgerichteten Technikhalle, stand ein seiner Funktion nicht zugeführter Verkaufsstand als Vision: eine Architektur, errichtet von dem ungarischen Künstler Tamás Kaszás, betitelt After the Never Existing (Vision of a Utopian Slum Center). Diese Kioskvision und die Idee,Erwärmungsbegrenzung als Utopie zu definieren, haben dabei mehr gemein, als man annehmen könnte.
Im Jahr 1922 malte der ungarische Schriftsteller, Künstler, Publizist und „Aktivist“ Lajos Kassák (1887–1967) einen Zeitungskiosk (Bildarchitektur II (Entwurf eines Kiosks)), der neben einem Raum für den Verkauf auch aufragende Werbeflächen in signifikanten Farben und mit kantigen Lettern vorsah. Mutmaßlich von einem Kiosk-Entwurf des russischen Konstruktivisten Alexander Rodtschenko aus dem Jahr 1919 beeinflusst,3 steht Kassáks (bis zum Werkleitz Festival nur als nachgebautes Modell existierender) Kiosk, neben dem vermutlich seinerseits durch die Gouache des Ungarn beeinflussten Entwurf für einen Zeitungskiosk (1924) des österreichischen Bauhaus-Studenten (und späteren -Lehrers) Herbert Bayer ,4 heute exemplarisch für eine bestimmte Ausrichtung der vom Konstruktivismus geprägten künstlerischen Moderne.5 Kassáks Kiosk gibt auch Zeugnis von seinen Ideen einer (neben der Architektur selbst einzulösenden) „Bildarchitektur“ als einer „neuen synthetischen Kunst“ wie auch von seinem damals aufkommendem Interesse an grafischer Werbekunst. So verkörpert Kassáks Entwurf eine zwischen Warenästhetik und Utopie aufgespannte und für ihre Zeit nicht untypische Widersprüchlichkeit, Propaganda, Werbung und Aufklärung als gleichzeitige Werkmerkmale zuzulassen: „Reklame schaffen heißt sozialer Künstler sein“,6 schreibt er 1926.
Tamás Kaszás konstruierte für das Werkleitz Jubiläums Festival als Außenarbeit diesen Kiosk entsprechend Kassáks Vorlage, jedoch in einer – gemessen an heutigen menschlichen Dimensionen – leicht geschrumpften Version und ohne sich an die durch Kassák gesetzten Farben zu halten. Kaszás, der in seinen Arbeiten vielfach eine nachutopische Perspektive auf die Moderne richtet, verwendete für den Bau des Kiosks einfaches und recyceltes Material wie Bretter, Latten, ausrangierte Türen, Planen. Die Werbeflächen enthielten keine Schrift mehr, die Verkaufsfläche war unzugänglich. Der Kiosk wirkte wie eine Ruine oder, von innen, wie ein Nachtlager, was sich durch eine in das gebückt begehbare Innere von Kaszás gelegte Matratze noch verstärkte, die keinen Aufschluss darüber zuließ, ob sie tatsächlich benutzt würde und durch wen sie dorthin gelangt war.
Wenn die Konstruktion doch ursprünglich ein Kiosk war, was war dann mit den zu handelnden Waren passiert? Was mit ihrem Tauschwert ? War die Warenästhetik gescheitert, eine Utopie der Moderne oder beides? Oder war hier bereits ein kommender Effekt des Anthropozäns zu sehen? Was andernorts als „Favela-Stil“ vermarktet wird, erschien bei Kaszás’ Konstruktion als Vision und Effekt eines Vergangenseins einer auf Kapitalismus, Moderne, Fortschritt und Überschuss fußenden Gesellschaftsordnung. In einer zweiten Arbeit im Inneren der Technikhalle verwies Kaszás auf entsprechende Zeichen der Gegenwart: Die Installation Dead Adv (Visual Aid No. 4a) zeigte neben Modellen und Abbildungen von mit Kassáks Entwurf vergleichbaren Kiosken auch Bilder von leeren Werbedisplays, wie sie in durch wirtschaftliche Krisensymptome charakterisierten Ländern zu finden sind – oder dort, wo dies politisch gewollt ist (São Paulo).
Kaszás’ Vision eines Kiosks (zudem eines verkleinerten,7 indes dabei theoretisch bewohnbaren) und die Vorstellung der Erderwärmungsbegrenzung als den Stillstand beschwörende Utopie verknüpfen sich spätestens in dem Moment, in dem die Insel als das geographische Motiv traditioneller Utopie-Erzählungen ins Spiel kommt. Auch wenn es angesichts des Ausmaßes mutmaßlich bevorstehender geographischer Veränderungen zu kurz gegriffen sein mag, das Hochwasser in Mitteleuropa vom Juni 2013 in einen direkten Zusammenhang zu Klimaveränderungen einerseits, zu einer durch letztere bewirkten zukünftigen Slumentwicklung (in Halle und andernorts) andererseits zu stellen, gilt es doch hier, ein gleichzeitig eintretendes Ereignis auf zwei Inseln als auslösendes Moment zur Entstehung von Kaszás’ Arbeit After the Never Existing (Vision of a Utopian Slum Center) auf einer dritten Insel zu erwähnen.
Als das Hochwasser im Juni 2013 die hallesche Peißnitzinsel unter Wasser setzte und – wie bald klar wurde – somit die bisherigen Planungen des Festivals Makulatur wurden, musste infolgedessen auch Kaszás nicht nur die Idee seines (in der verbliebenen Ruine des von Manfred Sommer entworfenen Pavillons) auf der Peißnitz geplanten Festivalbeitrags aufgeben, sondern gleichzeitig auch bei ureigenen Planungen umdenken: Das gleiche Hochwasser, das die Peißnitz überflutete, hatte auch Kaszás’ knapp 700 Kilometer entferntes Hausauf der Szentendrei-sziget, der Sankt-Andrä-Insel, erreicht, einer sich über etwa 40 Kilometer erstreckenden Donauinsel nördlich von Budapest. Ähnlich wie die thematische Nähe und Gleichzeitigkeit der beiden halleschen Ausstellungen Utopien vermeiden und Gewissheit, Vision mehr denn Koinzidenz sein könnten, stellt sich das an zwei entfernten Stellen auftretende gleiche Hochwasser als mehr denn als bloße Zufälligkeit dar. Oder, frei nach Reinhart Koselleck: Was jetzt noch als Ereigniszusammenhang erzählt wird, wird in Zukunft (wenn noch überhaupt) als Teil einer Struktur beschrieben werden können.8
Dass nun also eine dritte Insel auftauchte – jene Saaleinsel, auf der sich der Holzplatz befindet – und damit die Idee zu einem anderen Festivalbeitrag als dem ursprünglich geplanten, wurde von Tamás Kaszás dabei eher als neue Herausforderung begrüßt, denn als Verlust empfunden. In Kaszás’ künstlerischen Arbeiten ist das nachplanerische Spiel mit Raum und Zeit Methode: Vision, Utopie, Dystopie, Kollaps sind Themen, die in seinen Arbeiten immer wieder auftauchen, etwa in Megashelter (2011), einer Arbeit, bei der Kaszás die architektonischen „Megastructure“-Vorstellungen der 1960er Jahre auf die Bedürfnisse nach einem (wirtschaftlichen, ökologischen, politischen) Zusammenbruch überträgt und die modularen Gebilde nun in einem Modell als Träger von – dem Slum Center nicht unähnlichen – Hütten installiert.9 Aus einer Perspektive der Jetztzeit stellt Kaszás in solchen Arbeiten die Frage, ob die modernistischen Avantgarden und ihre Ästhetiken, die Menschen der Gegenwart oft in Form von der Lebenswelt entfremdeten, sterilen Objekten in musealen Sammlungen gegenübertreten, eine zweite Chance nach dem Zusammenbruch haben. Dies geschähe im Sinn einer „Folk Science“ (Kaszás), eines volkstümlich gewordenen Tiefenzeitechos10 aus einer noch utopischen Zeit, durch das die Bruchstücke der Erinnerung an die Moderne als Modellbaukasten funktionieren. Emanzipatorische Ideale der Avantgarden könnten – oder müssten – dann schlussendlich von allen übernommen werden.
Für den Moment geht es so in diesen Arbeiten immer auch darum, die Wirksamkeit nicht-staatlicher und nicht-kommerzieller Lebensentwürfe einer möglichen Zukunft als verschüttete Potenziale der Gegenwart bloßzulegen. Lajos Kassák schrieb in seinem Manifest Bildarchitektur von 1922: „Die Bildarchitektur gehört zu den ersten Dokumenten dessen, daß der sich in Kämpfen aufreibende Mensch von heute sein Sicherheitsgefühl wiedererlangte und seiner in Farben und Formen objektivierten Weltanschauung im Wege der primitiven Kunst zum ersten Mal auf die Beine helfen will.“11 Tamás Kaszás’ zwei Arbeiten für das Werkleitz Jubiläums Festival, After the Never Existing (Vision of a Utopian Slum Center) und Dead Adv (Visual Aid No. 4a), stellen mit und gegen Kassák finale Fragen an diesen Text: Sind es letzte Dokumente? Was wurde aus dem Gefühl der Sicherheit? Und handelt es sich ab jetzt um ein letztes Mal?
Martin Conrads
1 http://gewissheit-vision.de;22. September 2013 – 23. März 2014
2 http://gewissheit-vision.de/oswalt.php. Oswalt war ebenso Teilnehmer am Symposion des Werkleitz Festivals.Auch dort wiederholte er dieses Konzept einer Utopie, die auf Bewahrung abzielt und nicht – wie dies meist mit Utopien in Verbindung gebracht wird – auf Veränderung. Oswalt stellte dies in einen historischen Zusammenhang mit den klassischen Avantgarden: Diese hätten lediglich als „kultureller Reparaturbetrieb“ einer ziellos vorwärts treibenden, fragmentierend wirkenden Modernisierung der Welt funktioniert, wie es sich am Beispiel des Bauhausgebäudes in Dessau zeigen lasse. Dieses sei nicht als in die Zukunft weisender Bau entworfen, denn dort sei lediglich in einen neuen Zusammenhang gebracht worden, was im 19. Jahrhundert an Industriearchitektur bereits hervorgebracht worden sei. Das utopische Moment entsteht demnach aus einem als in die Zukunft projiziert wahrgenommenen Rückgriff auf Vergangenheit.
3 Vgl. Bakos Katalin, Neue Typografie – Neue Werbung. In: Júlia Fabényi (Hg.), Von Kunst zu Leben. Die Ungarn am Bauhaus. Pécs:Landesmuseen des Komitates Baranya 2010, S. 303.
5 Wobei der hauptsächlich als Literat agierende Kassák durch den Konstruktivismus eine ganz eigene Wirkung zu entfalten suchte: „Das, was Kassák am Konstruktivismus reizte, stimmte weder mit den russischen noch mit den westlichen Vorbildern überein. Er sah im konstruktivistischen Ansatz eine neue Kunst der Erlösung, die Möglichkeit, eine Zukunft auf einer vollkommen neutralen Basis aufzubauen. Seine Interpretation dieses Konzepts setzte er in einer majestätischen Ernsthaftigkeit von geradezu religiöser Überzeugung um. Er schuf damit eine dritte, klassizistische Version des Konstruktivismus, der einer Auffassung eines visionären neuen Staates und seiner intensiven zugleich auf Unterstützung und Angriff basierenden Beziehung zu den Künsten entsprach.“ Éva Forgács, „Du gibst uns zu essen und deswegen kämpfen wir gegen dich“. Konzepte von Kunst und Staat bei Lajos Kassák und in der ungarischen Avantgarde. In: Csilla E. Csorba (Hg.), Lajos Kassák. Botschafter der Avantgarde 1915–1927. Budapest: LiteraturmuseumPetőfi – Kassák Museum Budapest 2011, S.37 f.
6 Lajos Kassák, Die Reklame. In: Csilla E. Csorba (Hg.),a.a.O., S. 76 f.
7 Kaszás Arbeit erinnert so in mancherlei Hinsicht an Torsten Slamas Herbert-Bayer-Zigarettenkiosk/Atomskulptur von 2009 im Kölner Skulpturenpark, bei dem Bayers Kioskentwurf von 1924 in ebenfalls verkleinerter Form und modifiziert (durch Hinzufügung eines die aus dem Kiosk aufragende Zigarette bewachenden Gorillas) auch erstmals konstruiert wurde.
8 Vgl. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M. 2000, S. 144 ff.
9 Vgl. Tamás Kaszás, Visual Aid. Budapest 2013.
10 After the Never Existing (Vision of a Utopian Slum Center) wäre in diesem Sinne – wie der Titel dieses Textes bereits andeutet – eine aus einer Zukunft vermiedener Utopien temporär ausgeliehene Ruine mit projizierter Tiefenzeitdimension.
11 Lajos Kassák, Bildarchitektur. In: Csilla E. Csorba (Hg.), a.a.O., S.74 f.