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Segelt dieses Boot jede Nacht?
Utopie und der Sommer von 1973
Heute Nachmittag unterhielt ich mich mit einer Freundin, die aus Polen zu Besuch ist, über die „Weltfestspiele der Jugend und Studenten“ in der DDR 1973. Wie das so ist, schweifte sie ab. Das ganze „Experiment“, sagte sie, dieses „sozialistische Experiment“ hätte nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen, es sei das Resultat einer Vereinbarung zwischen den Siegermächten gewesen; und wer daran teilgenommen habe, sei zufällig gewesen. Europa sei wie mit dem Lineal gezogen aufgeteilt worden – eine Strategie, die sich nur Politiker ausdenken können –, ohne Rücksicht auf die einzelnen Länder, Menschen und deren Kultur. Der östliche Teil sei den Sowjets, so ihre Meinung, „verkauft“ worden als Gegenleistung für 40 Jahre Frieden in Westeuropa. Natürlich seien bei diesem Experiment die BewohnerInnen, die „Versuchskaninchen“, nicht gefragt worden. Man opferte sein Leben, um an diesem Experiment teilzunehmen. Man könne diese Weltfestspiele, erklärte sie schließlich, als eine Art Propaganda betrachten, gegenüber der restlichen Welt und um die unruhige Jugend des Ostens zu besänftigen. Es sei für westliche Aktivisten einfach gewesen – und das ist es vielleicht immer noch –, die eigenen Wünsche nicht nur auf die Weltfestspiele zu projizieren, sondern auch auf die sozialistischen Länder selbst, ohne ausreichendes Wissen über das, was dort tatsächlich geschah. Und das erschien ihr hässlich und trostlos.
Ich nehme an, sie sprach eher von ihren eigenen Erfahrungen in Polen 1973. Ich hörte aufmerksam zu, trotz der Tatsache, dass sie weder in Ostdeutschland war noch an den Weltfestspielen teilgenommen hatte, denn Polen liegt nun mal wesentlich näher an Ostdeutschland als an den USA. Über die Festspiele kann ich nichts sagen. Damals war ich weit weg und lebte ein ganz anderes Leben. Nähere ich mich dem Ganzen und versuche, eine persönliche Erfahrung damit in Verbindung zu bringen, so bleiben schließlich zwei Dinge: das Datum, der Sommer 1973, und das Wort „Utopie“.
Im Jahr 1973 war ich lebendig. Ich war ein langhaariger Teenager, in mancher Hinsicht jünger, als ich mich benahm, in anderer Hinsicht älter, als ich jetzt bin. Ging mir damals der Gedanke an „Utopie“ durch den Kopf? Das Wort liegt auf dem Tisch. Ich hebe es auf. Betrachte es von verschiedenen Seiten. Schneide mich an seinem gezackten Rand. Autsch! Es ist der Sommer 1973. Ich würde ja gerne eine zusammenhängende Geschichte erzählen, aber ich fürchte, ich komme nicht auf eine ganze Erzählung. Vielleicht löscht mein Kopf die Einzelheiten des Sommers 1973 aus. Damals war ich 15 und wollte weg von der Familie. („Wollte“ ist ein viel zu schwaches Wort, um das Gefühl, das ich damals hatte, auszudrücken.) Mühsam hatte ich Geld gespart durch zahlreiche schlecht bezahlte Jobs, Putzen, Bedienen und Babysitten, um mir eine sechswöchige Radtour nach Kanada leisten zu können.
Es war ein Sommer der Experimente mit Freiheit und Sex, und ich war überrascht, mich zum ersten Mal getrennt und außerhalb der Familienstruktur wahrzunehmen. Ich empfand mich anders, aber nicht anders genug. Ein Bild bleibt mir im Gedächtnis haften: Es ist spät nachts und ich liege an einem Strand auf der Prince-Edwards-Insel, nachdem ich zu viel gesoffen und mich übergeben habe. Mein Kopf ruht im Schoß der Gruppenleiterin, die meine Haare sanft streichelt. Mir ist immer noch übel, ich schaue hoch zum Vollmond und dann wandern meine Augen sehnsüchtig zu einem Boot, das sich elegant am Horizont entlangbewegt. Wo fuhr es hin? Segelte es jede Nacht?
Dieser chaotische, ambivalente, von Suchen geprägte Sommer hatte nichts Utopisches an sich. Ich kann mich nicht erinnern, dass Themen wie Politik, Gleichheit, Solidarität oder Freundschaft in einem größeren Rahmen eine Rolle spielten als in dem dieses kleinen, schlecht funktionierenden Haufens. Doch sicherlich gab es hitzige, selbstgerechte Debatten über den Zustand der Welt in dieser Gruppe Flanellhemden tragender, weißer Mittelund Oberklassenkids.
Womöglich wurde mir in diesem Sommer klar, dass man, wenn man seine gegenwärtigen Umstände verlässt, nicht neu geboren wird, strahlend, nackt und frei. Ich würde nicht gerade behaupten, ein utopischer Traum sei in jenen sechs Wochen geplatzt, denn so dachte ich damals nicht darüber. Aber es war der erste Sommer, in dem ich nicht nur den Wunsch nach einem anderen Leben ver- spürte – ich unternahm auch etwas, um es herbeizuführen. Wurde diese Sehnsucht erfüllt durch physisches Entkommen? Nein. Dazu braucht es mehr als körperliche Bewegung. Dies kann man nun als eine Art Geschichte betrachten, aber ich bin damit nicht zufrieden. Mit den eigenen persönlichen Erfahrungen komme ich nicht sehr weit. Meine Gedanken wandern woandershin. Ich greife nach diesem Wort „Utopie“ und suche an einem anderen Ort.
Laut meines Oxford-Englisch-Wörterbuches wurde das Wort „Utopie“ erstmals 1516 von Sir Thomas Moore verwendet, um eine imaginäre Insel zu beschreiben, auf der ein perfektes soziales, rechtliches und politisches System herrscht. Daraus entnehme ich die Worte „imaginär“, „perfekt“ und „Insel“ und stelle sie beiseite. Kleine Kieselsteine auf dem Sand meines erinnerten Strandes. Für Moore hängt „Utopie“ also mit einer plötzlichen Veränderung zusammen, mit der Vorstellung, dass die Dinge anders sein könnten. Aber dieses „anders“ ist nicht irgendein „anders“. Es ist perfekt und es ist abgetrennt. Ein selbstgenügsamer Ort, der von etwas anderem umgeben ist, von dem Anderen.
Victor Hugo bietet eine interessante, wenn auch weniger glückliche Sicht von „Utopie“ und Perfektion. „Unser Leben träumt die Utopie. Unser Tod erreicht das Ideal.“ Hängt (die Suche nach) Perfektion immer mit einem Todeswunsch zusammen? Ich denke an die unausgesprochenen Utopien der Religion und wie sie von als absolut gesetzten Gegensätzen durchdrungen ist: Gut und Böse, Himmel und Hölle. Ich denke daran, wie geeignet und effektiv Absolutheiten sind, um andere zu manipulieren, sie dazu zu bringen – sei es durch Begehren, sei es durch Angst – zu glauben. Die Angst vor und das Hingezogensein zu diesem Ort nie erfahrener Perfektion und des Todes. Und dann stoße ich auf ein Zitat von Emma Goldman: „Alle gewagten Versuche, die herrschenden Verhältnisse grundlegend zu verändern, alle hehren Visionen neuer Möglichkeiten für die Menschheit sind utopisch genannt worden.“ Damit impliziert sie, etwas „utopisch“ zu nennen sei gleichbedeutend damit, es abzuschreiben. Es ist ein Mittel, den diffusen Wunsch nach Veränderung, Unterschiedlichkeit und Möglichkeit zu diskreditieren. Historisch spezifischer argumentiert: ein einfacher Weg für die bestehenden Mächte, ungemütliche Ideen sozialer Veränderung beiseite zu schieben. Das Wort wird unausgesprochen in eins gesetzt mit unmöglich, unerreichbar und naiv.
Ich denke sehr oft in der Möglichkeitsform. Ich bin eher von dem Unreinen angezogen als vom Absoluten und habe deswegen Schwierigkeiten mit organisierten politischen und religiösen Gruppen. Das trägt auch nicht gerade zu meiner politischen Effektivität bei, weswegen ich mich am ehesten bei der Herstellung von dem wohl fühle, was man ambivalenterweise Kunst nennen könnte. Das bedeutet nicht, dass ich nicht an Veränderung glaube oder dafür kämpfen möchte – ich glaube wirklich an unglaubliche, undenkbare Veränderung. Denn eine solche Veränderung habe ich bereits gesehen, ich habe sie durchlebt. Sie existiert. Sie fand statt. Auf kleine und große Weise, sie hat mein Leben direkt berührt, und häufig auch indirekt durch das weiche Kissen Amerikas.
Also suche ich weiter und vermassele dabei manches. Ich habe keinen Zugang zu Ostdeutschland im Sommer 1973, also versuche ich erneut, meinem eigenen Land, meiner Erfahrung und meiner Heimat näher zu kommen. Ich entdecke ein Gedicht in einer Zeitschrift. Es handelt nicht von einem perfekten sozialen, rechtlichen oder politischen System, sondern von Rhythm and Blues. Eine Musik, die ich 1973 viel hörte. Das Gedicht heißt „Die Enzyklopädie des Rhythm and Blues“ und ist von Anthony Walton. Die letzten Zeilen lauten: as if a song had wings extended into flight and feathers of shelter – as if true love and its fraternal twin, the blues, possessed equally the powers of devotion and redemption, as if the one true heaven were standing around the corner, laughing drunk, and locked with lust and abandon into the ever-loving arms of the mortal world.
Es ist kein politisches Gedicht, und vielleicht kann man mich dafür kritisieren, dass ich mich nicht mit dem Rest von Sir Thomas Moores Definition von „Utopie“ auseinander setze, bei der es darum geht, das perfekte soziale, rechtliche und politische System zu genießen. Aber das hat wenig mit dem Sommer meiner Jugend 1973 zu tun, der geprägt war von kleinen internen Machtkämpfen, Cliquen und Eifersüchteleien, von wilden Partynächten voller Vertraulichkeiten und Intimität. Das vorherrschende Gefühl war, dass wir etwas machen wollten. Und dass wir es können – oder zumindest versuchen können.
Moores Insel kann ich mir zurzeit nicht vorstellen, vielleicht werde ich es nie können. Momentan habe ich das Bild des „einzig wahren Himmels“, des „lachenden Säufers“ aus dem Gedicht im Kopf. Ich denke an diesen „einzig wahren Himmel“ und sicherlich beziehen sich diese Worte irgendwie auf Moores Insel. Doch statt dass sie abgetrennt und perfekt ist, ist sie total durcheinander, wie ein freundlicher Säufer, der noch stehen und ficken und einen guten Witz erzählen kann hier in der vergänglichen Welt – in meiner Welt. Begehrend und geliebt.