Homo Politicus: Über den Fall Pim Fortuyn

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Homo Politicus: Über den Fall Pim Fortuyn

Ein paradoxer Politiker

Seit seinem Erscheinen auf der politischen Bühne der Niederlande war Pim Fortuyn ein entschlossener und wortstarker Bilderstürmer, ein neuartiger Politiker, der das Paradoxe zu seinem Markenzeichen machte: ein elitärer Populist, ein freizügiger Tugendwächter, ein moderner Traditionalist. Die öffentliche Figur, die zuerst bei den Gemeinderatswahlen vom 15. März 2002 dominierte, um anschließend Kurs auf einen nationalen Triumph bei den niederländischen Parlamentswahlen am 15. Mai 2002 zu nehmen, schien für den Erfolg vor den Kameras geboren zu sein.

Das Schaffen einer politischen Persönlichkeit muss heute wörtlich genommen werden: kein Spitzenpolitiker ohne intensives Medientraining und fachkundige Frisurenberatung. Fortuyn hingegen war ein Naturtalent. Seine wohlklingenden Einzeiler schienen ihm nicht von teuer bezahlten Schreiberlingen zugeflüstert, sondern Produkt seiner eigenen Spitzfindigkeit zu sein. Die Lehrerfahrung vieler Jahre vor vollen Hörsälen verschiedener universitärer Departements und eine Vergangenheit als Kolumnist haben hierzu zweifellos beigetragen. Trotzdem konnte es niemandem entgehen, dass seine schnelle Zunge und sein flamboyantes Auftreten vor der Kamera Bestandteil seines Naturells waren. Fortuyn war ein Homosexueller der extrovertierten Art. Nicht einfach vielleicht, aber sehr normal.

The political is the personal

Wie ist Fortuyns Wahlslogan „At Your Service“ anders zu verstehen, als ein halbseidenes „double entendre“? Als eine schelmische Anspielung auf die sexuellen Aktivitäten, die dieser Politiker laut eigener Aussage in den dark rooms manch eines Homoclubs praktizierte? „At your service“ sollte so viel heißen wie „zu Ihren Diensten“ oder „ich bin verfügbar“. Für genaue BeobachterInnen war klar, dass dieser Debütant auf der politischen Bühne die Spielregeln des Nehmens und Genommenwerdens in einer ganz anderen als der öffentlichen Arena gelernt hatte. Der dazugehörende militärische Salut ließ sich wie ein Symbol der Tatkraft lesen, suggerierte aber (jedenfalls in der Ausführung durch Fortuyn selbst) ebenso gut eine Parodie auf die Rituale des förmlichen Clubs, aus dem die „violette“ Regierung 1 bestand und die Politik durchgängig besteht. Verschiedene KommentatorInnen haben vor und auch nach dem Tod von Fortuyn darauf hingewiesen, dass sein rudimentäres Parteiprogramm als der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen der gefestigten Ordnung fungierte. Die gleiche Feststellung gilt auch für sein Image des unbescholtenen, aber weltweiten Außenseiters, der unbändigen Tunte, die dem verkrampften „straight establishment“ eine lange Nase macht. Auch wenn er „queer“ war, seine Ideen zumindest waren „square“. Sein robuster Sprachgebrauch und seine simplifizierten Lösungen hatten zur Folge, dass ihm seine überwiegend heterosexuelle Wählerschaft gern seine homosexuellen Koketterien verzieh. Diese WählerInnen sprachen nicht gern darüber, dass ihr Pim ein Homo war. Das war nicht wichtig, er sagte zumindest, was sie dachten.

Der Erfolg eines bekennenden schwulen Politikers bei der homosexuellen Wählerschaft dagegen kann schwerlich erstaunen. Solange gleiche Chancen für Homosexuelle noch nicht Fakt sind, gibt es einen konstanten Bedarf an Rollenmodellen in der Öffentlichkeit. Der erste unverhohlen homosexuelle Ministerpräsident einer modernen Demokratie wäre für viele ein schlagkräftiger Beweis für eine wirklich tolerante Gesellschaft. Dass das Streben Fortuyns nach einer repräsentativen Position von einem Teil der homosexuellen Gemeinschaft bejubelt wurde, illustriert hauptsächlich die schaurigen Grenzen einer apolitischen sexuellen Politik. Bei den Wahlen hat er vor allem Punkte bei den politisch uninformierten Homosexuellen geholt. Aber man darf es als sehr erstaunlich betrachten, dass in einem Land, das ansonsten so empfindlich auf Pädophilenskandale reagiert, auch eine beträchtliche Anzahl heterosexueller, oft moralisch entrüsteter BürgerInnen ihre Stimme für einen bekennenden Päderasten abgeben. In Interviews verschwieg Fortuyn sein Interesse für ganz junge Männer ebenso wenig wie seine Vorliebe für das Rimmen 2 .

Es wäre den Damen und Herren von der Presse nie in den Kopf gekommen, einen heterosexuellen Politiker über seine sexuellen Aktivitäten zu befragen – aber Fortuyn genoss seine Bekenntnisse ganz offensichtlich. Wie kein anderer in den Medien präsenter Mann hat er es geschafft, die expliziten Informationen über seine sexuellen Aktivitäten und seine sexuelle Toleranz zu seinem Schutzbrief gegen die viel schärferen Vorwürfe des unverschleierten Rassismus zu machen. Fortuyn hat als erster Politiker freiwillig mit der asexuellen Sexualpolitik gebrochen, die die Medien noch immer beherrscht. Denn so sehr Sex einerseits Bestandteil des Mediengeschehens ist und andererseits zum öffentlichen Geschehen gehört, so sehr riskiert jede öffentliche Person, die tatsächlich mit Sex assoziiert wird, ihre Erniedrigung und Dämonisierung. Wenn Politiker eine Lehre aus Clintons Lewinsky-Affäre gezogen haben, dann die, dass Sexappeal in ihrer Branche besser nicht in echtem Sex enden sollte. Fortuyn wusste nur zu gut, dass in Zeiten des „full media exposure“ der sexuelle Skandal über dem Kopf eines jeden Politikers, und um so mehr über dem eines homosexuellen Politikers, schwebt. Er hat den Skandal von Beginn an selbst gesteuert, damit andere Opportunisten dies nicht an seiner Stelle tun. Ihm drohte kein In-flagranti-Szenario, wie es bei einem George Michael der Fall war: Seine sexuelle Identität sollte nicht von Sex verheizt werden. Er war schlussendlich der Mann, der sagte, was er tat, und der tat, was er sagte. Der erste Politiker, der das Arschlecken wörtlich nahm.

Moderner Traditionalismus

Wie ist politische Wahrheit mit einem unverhohlenen Sexleben, ganz zu schweigen von einem öffentlichen Homo-Sexleben, in Einklang zu bringen? Wie ist gesellschaftliches Ansehen mit anonymem Sex in dark rooms unter einen Hut zu bringen? Der frühe Tod von Fortuyn lässt diese nagelneuen Fragen in Sachen heutiger Politik unbeantwortet. Seine Unanständigkeit hat ihm zweifellos bei seiner Blitzkarriere als provokanter Vertreter geholfen. Die langfristigen Auswirkungen dieses ungewöhnlichen Images lassen sich vorläufig nur erahnen. Andere Bewerber mit gleichen Neigungen werden sicher folgen, denn die sexuellen Praktiken, die auf den ersten Blick für den überwiegenden Teil des heterosexuellen Wählerkreises wie eine Abweichung erscheinen, münden bei genauem Hinsehen vielleicht in einer bleibenden Würdigung. Fortuyn war schlussendlich nicht einfach nur ein Politiker mit gewagten Vorlieben, er war ein neoliberaler Politiker mit einem unverkennbaren Geschmack. Und Vergnügen, Begehren und Andersartigkeit sollen ja gerade die Merkmale für den von den Neoliberalen heftig bejubelten freien Markt sein.

In den Augen vieler unruhiger WählerInnen konnte der sich offen bekennende Homosexuelle durchaus den Fels in der Brandung verkörpern. Wer autonom über seine sexuelle Identität zu entscheiden wagt – vor allem dann, wenn diese deutlich von der Norm abweicht – und wem es gelingt, die Kontrolle über ein Privatleben zu behalten, spricht in jeder Hinsicht eine deutliche Sprache in einer Gemeinschaft, die sich so schnell und so extrem verändert, dass sie wie ein steuerloses Floß in einem Fluss zu treiben scheint. Darüber hinaus ist die sexuelle Toleranz und das Zulassen neuer Formen der Sexualität ein Ausweis der Modernität. Die gesellschaftliche Sichtbarkeit der Homosexualität (zum Beispiel im Entstehen lebendiger Wohngegenden für Homosexuelle in Großstädten wie Shanghai, Tokio und Paris) gilt als Maßstab für die angenehmen Aspekte der Globalisierung.

Fortuyn hat es nicht unterlassen, diese Modernität seines sexuellen Status zu missbrauchen. Er konnte den Unterschied zwischen den herrlich permissiven Niederlanden und den rückständigen Ländern, in denen (Homo-)Sexualität ein Tabu bleibt, nicht stark genug betonen. Er liebte es, die konservativen Islamisten zu piesacken, denn jedes Mal, wenn diese sich über unnatürliche Praktiken und westliche Dekadenz zu Schimpftiraden herausfordern ließen, unterstrich das seine Progressivität.

Diese erprobte rassistische Taktik ist ein trauriges Klischee, welches homosexuelle Paare in bezahlbaren und somit ethnisch gemischten Wohngebieten in der Großstadt zweifellos am eigenen Leib erfahren. Wenn wieder mal in ihren Briefkasten gepinkelt wurde oder ein neuer Kratzer auf ihrem Auto ist, werden sie den marokkanischen Nachbarn, der seit Jahren neben ihnen wohnt, mit dem Finger auf den kürzlich hinzugezogenen kongolesischen Flüchtling zeigen sehen. Frühere Opfer von Stigmatisierung wissen, wie man stigmatisiert. Fortuyn schien keine Ausnahme von dieser traurigen Regel zu sein und machte die EmigrantInnen für die steigenden Kriminalitätszahlen verantwortlich. Er wollte stante pede das Schengener Abkommen kündigen, die nationalen Grenzen schließen und pro Stadt, Wohngebiet und Schule ethnische Quoten festlegen. Sein simplifizierender Vorschlag, erst Ordnung in den Niederlanden zu schaffen und sich danach mit der Welt da draußen einzulassen, ähnelt ironischerweise einer der säkulären Aussagen des Taliban-Regimes in Afghanistan. In seinem möglicherweise noch verrückteren Beschluss, alle Computer aus niederländischen Schulen zu entfernen, zeigte er eine große Affinität zu den ultra-orthodoxen Juden in Israel, die vor dem Internet warnen, da es die Pforte zur Außenwelt sperrangelweit öffnet.

Von der Eingrenzung der sexuellen Moral wollte Fortuyn nichts hören, von der Abgrenzung der nationalen Identität konnte er nicht genug bekommen. Homosexuelle können sich benehmen, wie sie wollen, aber AusländerInnen müssen sich nach dem richten, was sich gehört. Es wird Zeit, äußerst beherrscht, aber effektiv und knallhart zurückzuschlagen und die türkische, marokkanische, surinamische und antillanische Gemeinschaft ohne Umschweife für das schlechte Benehmen von Gruppen aus ihrer Gemeinschaft mitverantwortlich zu machen. Wir haben hier ein Volk und eine Nation zu bilden, um überleben zu können, und das bedeutet, dass sie sich hieran entweder voll und ganz beteiligen und sich als NiederländerInnen fühlen oder dorthin zurückgehen, von wo sie gekommen sind. So fasste der Rotterdamer Populist sein Assimilationsprogramm knapp zusammen. Der erste niederländische Politiker, der den Nationalismus über der gesellschaftlichen Agenda zu platzieren verstand, ärgerte sich schrecklich darüber, wenn sich seine Stadt durch einen Sieg der türkischen Fußballmannschaft mit einem Schlag in Klein-Istanbul veränderte. Die Chance ist groß, dass viele seiner konservativen, heterosexuellen Wähler über die jährliche Schwulenparade in ihrer Stadt genauso dachten – bis dieser emanzipierte Homosexuelle in Anzug und Krawatte ihnen klar machte, dass „in unserem, dem modernisierten Teil der Welt“ Tunten jeder Art und Herkunft die Normalisierung dieser chaotischen Existenz wollen.

Die Pigmentierung des Nationalismus

Als Pim Fortuyn nach dem Debakel mit der Partei Leefbaar Nederland, deren Spitzenkandidat er zuerst war, in aller Eile seine eigene Liste für die Parlamentswahlen zusammenstellen musste, landete ein attraktiver 27-jähriger Kommunikationsmanager kapverdischer Abstammung namens João Varela auf dem zweiten Platz. João Varela ist ein wenig der „Whity“ in der Geschichte von Pim Fortuyn. Nicht so sehr deshalb, weil die Genealogie vieler Kapverden durch vielfache Metissages zwischen den schwarzen SklavenInnen und den weißen Kolonialisten bestimmt ist, sondern weil Varela in der Geschichte des Pim Fortuyn ein gelungener Ausländer war: erfolgreich im Geschäft und somit fast ein echter Niederländer. Außerdem soll er sich selbst spontan bei einem schicken Herrn Fortuyn angeboten haben, um ihm zu helfen – und zwar in dem Moment, in dem Fortuyn als Rassist stigmatisiert wurde. Varela als der ideale politische Butler für Herrn Fortuyn. Indem er sich auf Fortuyns Liste setzen ließ, wollte der kapverdische Kommunikationsmanager eines Kosmetikunternehmens helfen, das Vorurteil Fortuyn als Rassisten zu entkräften. Man könnte dies als die Strategie der Pigmentierung des Nationalismus bezeichnen. Eine profitable Partnerschaft!

Sogar der vermutliche Mörder von Pim Fortuyn lieferte unbeabsichtigt seinen Beitrag zur Destigmatisierung von Fortuyn. Eine Stunde nach dem Mord an Pim Fortuyn auf einem Parkplatz im Mediapark von Hilversum konnte der Sprecher der lokalen Polizei gute Neuigkeiten verkünden. Der vermutliche Mörder sei festgenommen und mehr noch, es handele sich um einen weißen Niederländer. Dies wurde ganz besonders betont. Man reagierte erleichtert, nicht zuletzt die migrantischen Organisationen. Man war ebenso erleichtert wie damals, als sich herausstellte, dass der israelische Prämier Yitzschak Rabin von einem radikalen Juden und nicht von einem Palästinenser ermordet worden war. Kurz hatte man befürchtet, dass Fortuyn von einem Ausländer ermordet worden sein könnte, was Indiz des Bewusstseins über Fortuyns eindeutig rassistische Äußerungen sein, aber auch aus einem primären rassistischen Reflex entstanden sein konnte: Es wird doch nicht wieder ein Fremder sein? Aber Fortuyns Rassismus war kein Motiv für den Mord. Wenn Fortuyn nicht von einem Ausländer, sondern von einem weißen Niederländer ermordet wurde, so war das Understatement: Dann war Fortuyns so genannte Rassismus wohl doch nicht so schlimm. In allen Interviews nach dem Mord pochte die Familie Pim Fortuyns denn auch darauf, dass Pim ein Symbol für alle Niederländer, ob schwarz oder weiß, gewesen sei.

Aber die raue politische Wirklichkeit wird schnell wieder anders aussehen. Nach dem Mord an Fortuyn stellte sich unvermeidlich die Frage nach dem politischen Erbe. Wer würde ihm als Parteivorsitzender folgen? Und, noch pikanter, wer sollte ihn als Bewerber für den Posten des Ministerpräsidenten vertreten? Einige niederländische Medien äußerten mit Genugtuung, dass João Varela, der Zweite auf der Liste, vielleicht der erste schwarze Ministerpräsident eines europäischen Landes werden könne.

Jeder verstand die Ironie, aber die Spekulationen wurden sehr ernst formuliert. Nach dem Mord an Pim Fortuyn waren alle Mann an Deck, um eine gefestigte politische Ordnung in den Niederlanden zu gewährleisten, und die etablierten Medien lieferten ihren Beitrag, um das politische Chaos zu lichten, an dessen Entstehung sie mitschuldig waren.

Die Tatsache, dass zum ersten Mal ein Schwarzer Ministerpräsident der Niederlande werden könnte, wurde als eine subtile Drohung interpretiert: Du solltest jetzt, da Pim Fortuyn tot ist, deine Stimme besser nicht für Fortuyns Liste abgeben, da deine Stimme den umgekehrten Effekt haben könnte.

Stell dir vor: ein schwarzer Ministerpräsident! Es braucht fast nicht erwähnt zu werden, dass Fortuyns Partei nie ernsthaft João Varela zu ihrem neuen Vorsitzenden machen wollte. Und seine WählerInnen hatten von Anfang an verstanden, dass Pim es schlau anging und ein Ausländer für die gute Sache notwendig war.

Die Kriminalisierung der Immigration

Auch in anderen Ländern Europas lässt sich feststellen, dass nationalistische Parteien AusländerInnen an Bord nehmen – nicht als Milderung der ursprünglichen Parteistandpunkte, sondern als eine Strategie, um die Parteistandpunkte radikalisieren zu können. Mit MigrantInnen an Bord wappnen sich nationalistische Parteien gegen den Verdacht des Rassismus, genau wie Frauen den Vorwurf des Sexismus entkräften sollen. Sobald bewiesen ist, dass sie keine Rassisten sind, können die Nationalisten ihren Nationalismus verstärken. Fortuyn war nicht ehrlich, als er behauptete, dass die Ausländer, die in Holland drin waren, drin bleiben würden – aber keine Neuen mehr rein dürften. Eigentlich ist dies der neue Common Sense der westlichen, so genannten liberalen Demokratie geworden. Meinungsverschiedenheiten gibt es nur über die Größe des Spalts, den die Tür geöffnet werden kann: einen großen Spalt, einen kleinen Spalt, fast keinen Spalt. Alle europäischen Länder unterstützen eine repressive Emigrationspolitik und Fortuyn wollte am liebsten noch repressiver sein. Aber sogar Fortuyn schloss die Tür nicht ganz – seine Idee, Dänen, Deutsche und Briten rein zu lassen, Belgier aber nicht, klingt wie einer der in Holland so beliebten Belgierwitze. Fortuyns Diskurs war also nicht heterodox, sondern – Sie erlauben – homodox, im Sinne der Doxa. Fortuyn liebte die gleichen Grundsätze wie die regierenden niederländischen MinisterInnen, nur – er liebte sie zu sehr.

Vor Jahren stellte Stephan Heym über den Kommunismus in der DDR die Frage: Was ist das für ein System, das nur funktionieren kann, wenn es Menschen verpflichtet, in diesem System zu bleiben? Diese Frage muss nun hinsichtlich des Kapitalismus umgedreht werden: Was ist das für ein System, das nur funktionieren kann, wenn es Menschen ausschließt? Die Berliner Mauer ist zwar gefallen, aber der Ruf, aus ganz Europa ein umgekehrtes Ost-Berlin zu machen, ist derzeit besonders laut. Es bleibt nicht bei dem Bild, bei der Metapher der Mauer. Es stehen bereits Mauern und es gibt schon Stacheldraht um die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla auf dem afrikanischen Kontinent. Die Mauer zwischen Europa und Afrika ist sogar länger als die Berliner Mauer je gewesen ist. Die Berliner Mauer ist also nie gefallen, sie wurde einfach nur verschoben. Da der Fall der Berliner Mauer noch nicht lange zurückliegt und der Ruf nach einer neuen, viel längeren Mauer heute wieder laut wird, könnte man annehmen, dass die Berliner Mauer vor allem ein Skandal in den Augen der Nationalisten war. Die Mauer stand einfach am falschen Platz. Es hätte eine Mauer an der Grenze zu Polen gezogen werden müssen. Und da Polen in absehbarer Zeit auch Mitglied der Europäischen Gemeinschaft wird, muss wenigstens eine Mauer zwischen Polen und Russland gezogen werden. Aus der russischen Enklave Kaliningrad an der Ostsee erreichen uns mittlerweile die ersten verängstigten Berichte, dass man befürchte, eingeschlossen zu werden. Dies sollte Europa, das vor noch nicht allzu langer Zeit durch die Bilder der zusammenbrechenden Berliner Mauer bewegt wurde, doch nachdenklich stimmen.

Vor noch nicht allzu langer Zeit war ein Westdeutscher, der einem Ostdeutschen half, die Mauer zu übersteigen, ein Held. Wenn ein Deutscher heute einem Russen hilft, ins Land hineinzukommen, ist er entweder ein linker Anarchist oder ein Menschenschmuggler. In beiden Fällen ist er kriminell. Ebenso ist es in vielen europäischen Ländern nicht mehr möglich, einen Ausländer oder eine Ausländerin zu heiraten, ohne dass diese Eheschließung gründlich geprüft wird. Die Nationalität und das Recht, in einem westlichen Land zu bleiben, sind Formen des Zugewinns aus einer gemischten Ehe, die nach Auslegung des Ehevertrages nicht einfach aufgeteilt werden können. Für im Ausland geborene PartnerInnen sind der Zugewinn der Nationalität und das Aufenthaltsrecht grundsätzlich nicht veräußerbar. Daher rührt das große Misstrauen der Behörden, die die Emigration mit aller Macht eindämmen wollen. Gleichzeitig könnte uns diese Sachlage auf Ideen bringen. Vielleicht muss die Ehe, exponiertes Symbol des sexuellen Traditionalismus, als eine Tat politischer Progressivität wiederverwendet werden. Eine andere Welt ist möglich: Heiraten wir nicht-europäischen AusländerInnen! Und damit auch Homosexuelle diesen politisch progressiven Schritt gehen können, sind wir selbstverständlich absolute Befürworter der homosexuellen Ehe.

Herman Asselberghs ist Künstler, Kritiker und Autor. Er lehrt Film und Transmedia an der Hochschule Sint-Lukas in Brussel

Dieter Lesage ist Philosoph, Schriftsteller, und Dozent an der Kunsthochschule RITS in Brüssel

Fußnoten:

1 Rot und Blau: Sozialisten und Liberale

2 Nach dem englischen „rimming“: anal-oraler Sex