Ciné-tracts

Die offiziellen Standpunkte der Regierungen von Washington, Paris und Bonn wurden 1968 vor allem auch durch Filme unterlaufen. Leichte 16mm-Filmausrüstung und Synchronton ermöglichten es der Protestbewegung, militante Filme als Selbstverständigungsmedium herzustellen. Anonyme Kollektive erlernten im Strudel der Ereignisse den Umgang mit Kamera und Schnitt; dem Mangel an finanziellen Mitteln wurde mit improvisierten Gestaltungsformen begegnet. Wo Originalmaterial fehlte, wurden Zeitungsbilder verwandt. Infolgedessen standen 1968 auch die künstlerische Identität der FilmemacherInnen selbst, ihr professionelles Privileg und die Produktionsverhältnisse der Filmindustrie zur Disposition. Die Frage der Revolution und der Solidarität mit der europäischen Arbeiterbewegung stellte sich für einen Moment auch als Frage der filmischen Darstellung. Zu den bekanntesten Beispielen dieser kollektiven Film/Politik-Praxis zählen die Ciné-tracts. Diese kurzen Dokumentarfilme agitatorischen Charakters wurden 1968 von einem anonym agierenden Team französischer FilmemacherInnen unter Mitarbeit von Chris Marker, Jean-Luc Godard und Alain Resnais produziert. Mit ihren stummen, flugblattartigen Bild-Text-Montagen stellten sie ein Äquivalent zu den revolutionären Plakaten dar, die im Mai 1968 auf den Pariser Häuserwänden erschienen. Die etwa 50 entstandenen Ciné-tracts wurden auf Demonstrationen, Versammlungen und in Fabriken gezeigt. Die 6. Werkleitz Biennale präsentiert auf einem Videomonitor eine Auswahl einzelner Ciné-tracts.