The Gods of Times Square

US 2001

The Gods of Times Square ist keine Dokumentation im traditionellen Sinne, sondern eine Meditation über den Glauben. Die spezifische Natur dieses Glaubens ist für Richard Sandler weniger wichtig als dessen Stärke und Fülle. Sechs Jahre filmte er auf dem Times Square, jeden aufnehmend der bereit war, in seine Kamera zu sprechen. Wenig überraschend vertraten Viele eine vom Glauben getragene Botschaft. Von falschen Ministern die über die Disneyfikation des Platzes schimpfen, über schwarze Juden die den Sturz des „Weißen Teufels“ predigen, zu evangelischen Baptisten, die wahlloses Höllenfeuer über die betrügerischen Querdenker der „Juden für Jesus“ rappen, fängt Sandlers Linse die Vernünftigen und Unvernünftigen ein, wie sie ihre Version des ‚Wortes‘ auf dem Platz verkünden.
Ein paar Stimmen melden sich in einer ganzheitlichen, toleranteren Ansicht zu Wort: James, der ältere schwarze Mann mit dem Kragen eines Priesters und dem Koran, beantwortet Fragen aufgeschlossen mit Gegenfragen. Jim, der selbst ernannte Indie-Rock Jesus, glaubt er sei auserwählt Madonna zu heiraten und sich mithilfe ihrer „Sphäre der Kraft“ in internationale Beziehungen einzumischen. Der Obdachlose sieht die Welt sich vom Atom an exponentiell ausdehnen und nennt dies lieber „wissenschaftliche“, nicht geistliche Erfahrung.
(Dylan Young)
www.hour.ca

„The Gods of Times Square ist eine Dokumentation über eine mannigfaltige Kultur praktizierender Religiöser (mich selbst eingeschlossen), die von der elektrischen Energie dieses erfundenen menschlichen Treffpunkts angezogen werden. Dort, zur ‚Kreuzung der Welt‘ inmitten seiner Dom ähnlichen Turmspitzen, gelangen wir um das Glaubensbekenntnis der sehr unterschiedlichen Ausprägungen der eigenen religiösen Erfahrung zu erklären. Ich bin ein New Yorker, und wie die meisten Einheimischen die den elektrischen Puls des Times Square liebten, sahen wir diesen als magischen Platz auf Erden, eine Insel der Vernunft in einer puritanischen Kultur. Als Teenager in den frühen 1960ern starrte ich in die Welt der Erwachsenen durch den Spiegel der Billardräume, Randvorstellungen und Arkaden des Times Square. Über dem gesamten Amerika der 1960er Jahre lag Rassismus und die Ordnung der Klassengesellschaft, doch am Times Square wurde zu dieser Zeit durch die Mischung von hoher Kultur auf der einen Seite und niederer Kultur auf der anderen mit diesen Krankheiten umgegangen: Shakespeare in der 43. Straße neben einer Zirkusvorstellung auf der 42. Straße.

Als ich 30 Jahre später dieses Projekt begann, realisierte ich, dass mein lebenslanges Interesse und die Beteiligung an Religion seinen Ausdruck in diesen liebevoll erinnerten Platz der Jugend finden würde. Ich entdeckte, dass The Gods of Times Square eine Elegie sein müsste. Ich fing den unkonventionellen alten Platz ein, gerade als er vom sauberen Apparat der großen Unterhaltungsindustrie verschluckt wurde. Die auf dem Times Square immer präsenten praktizierenden Religiösen würden traditioneller Weise zu dieser menschlichen Kreuzung gelangen, um sich in ihrem Widerstand gegen die Sünde des weltlichen Lebens zu ereifern. 1994 bezog Disney mit seinen eigenen Göttern und falschen Mythen den Times Square. Der Platz wurde von Pornografie und Prostitution ,gesäubert‘. Aufgrund dieser fundamentalen Veränderung gaben es viele der religiösen Ereiferer auf, den Platz zu besuchen.
Die Leute scheinen aus dem Dickicht zu kommen um mit mir und meiner Videokamera zu reden. Ich funktioniere wie ein ‚Zelig-gleicher‘ Katalysator für die Prediger und Mystiker die es juckt über Gott zu reden, ebenso über die Zwischenbeziehungen von Religion, nationaler Abstammung, Ethik, Wirtschaft und Politik. Diese Gespräche über den tieferen Sinn des Lebens geschehen vor dem Hintergrund der allgegenwärtigen Bilder der Pop- und Verbraucherkultur. Marky Mark hoch oben auf einer Plakatwand ist wie Apoll, der, rittlings über dem Osteingang des Platzes stehend, ein Bild von menschlicher körperlicher Perfektion projiziert. Darunter flucht ein Priester über die Notwendigkeit einer einzelnen religiösen Redensart – einen Vorschlag den ich ziemlich absurd finde und zu widerlegen wünsche.

Die kirchenähnliche Form des Times Square wird von hohen neon Monolithen an jedem Ende bestimmt. Times Square Nummer eins ist der Altar, der Ort an dem hunderttausende, trunkene Bittsteller im ersten Moment eines neuen Jahres einen kalendarischen Marsch einleiten, der mit Christi Geburt beginnt. Vielleicht besteht die Anziehung für Priester und Missionare zu diesem ultimativen Platz der Stadt in seiner Kathedralen ähnelnden Form des Platzes selbst. Wenn Times Square eine Kirche ist, bietet er wie alle Kirchen Erlösung und Entschlossenheit. Die Lösung von The Gods of Times Square wurde in den tiefsinnigen Weisheiten der Straße gefunden, besetzt mit ‚gewöhnlichen‘ Joes und Janes die den Inhalt des alltäglichen Lebens selbst als spirituell empfinden.

Die Arbeit wurde in einem Zeitraum von sechs Jahren aufgenommen, währenddessen sich die radikale Umwandlung des Times Square vollzog. Das Disney Unternehmen kaufte und renovierte das New Amsterdam Theatre, wodurch eine Entwicklungslinie begann, die lokal in einer totalen unternehmensgesteuerten Landschaft enden wird. Der Tante Emma Laden ist verschwunden, verdrängt von der Profitgier der Großgrundbesitzer. Außer den am schärfsten kreischenden religiösen Eiferern sind ebenfalls alle verschwunden. The Gods of Times Square dokumentiert daher eine Zeit in der Geschichte New Yorks, als der Platz am meisten mit Meinungsfreiheit und der Seele New Yorks identifiziert wurde, und sich nun von einem demokratischen, gemeinsamen Boden zu einer Unternehmen kontrollierten, seelenlosen Themenpark Atmosphäre wandelte. Die frühere Version des Times Square bot seinen Benutzern einen Ort zum durchatmen und Luft ablassen: um über Gott zu schimpfen und auf extreme Weise Sünde zu begehen, um Billard oder Flipper zu spielen oder, am anderen Ende der Angebotspalette des Times Square, mit einer jungen Frau zu tanzen. Nun sind die Wahlen eingeschränkt, die Preise höher, die Sünde verschwunden. Der erdichtete ‚Weiße Weg‘ spielt nun Gastgeber für die neuesten Götter: Mickey und Minnie und Goofy an der einen Ecke, Bugs Daffy und Porky auf der gegenüberliegenden Straßenseite ... Gott rette den Times Square!”
(Richard Sandler)

Richard Sandler
USA 2001, 114 min, video, engl

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