The Big Plot

DE 2009

Identität als ein vielschichtiges Ich


Die Auflösung des bisherigen Verständnisses von Identität (vor dem Internet) hat zu einer fortwährenden, fragmentierten und schnellen Entwicklung geführt. Im Netzwerk-Zeitalter können Identitäten aus äußerst unterschiedlichen und nebeneinander existierenden Schichten des „angereicherten Ich“ bestehen. Dieser Prozess hat seinen Ursprung in der fortwährenden Vermittlung, die mittels der verschiedenen Web 2.0-Plattformen und -standards geleistet wird und der jede Identität unterworfen ist. Dies führt zu multiplen, partiellen Repräsentationen des Ichs in einer vielschichtigen Form. Im Ergebnis verläuft das Denken jenseits des gewöhnlichen, körperlichen Lebens bereits teilweise in diesen Bahnen. Inzwischen erlebt man seine Identität nicht mehr als ein unteilbares Ganzes, sondern als etwas, das aus verschiedenen Einzelteilen zusammengesetzt ist, die nachhaltig und reziprok durch Online-Erfahrungen beeinflusst sind. Im ästhetischen Sinne sind diese nebeneinander existierenden Schichten, in denen einander ähnliche, verstreute Teilchen persönlicher Inhalte gespeichert sind, in verschiedenem Maße transparent und redundant. Diese Transparenz des Ichs spiegelt sich offensichtlich in verschiedenen kulturellen Feldern: vor allem ästhetisch, wie zum Beispiel im weit verbreiteten Gebrauch von Glas in der Architektur öffentlicher Gebäude, in den transparenten Textilien avancierter Mode oder den verschiedenen Typen von durchsichtigem Plastik, die in elektronischen Geräten eingesetzt werden; aber auch auf einer funktionalen Ebene, wie in der kontinuierlichen Aufzeichnung jeder elektronischen Aktivität, die von uns ausgeht, als ständiger Eintrag ins Logbuch unseres Lebens. Somit ist man (freiwillig oder unfreiwillig) dazu veranlasst, dem eigenen informatorischen Körper weitere Teile hinzuzufügen. Darum kann eine reale Person zunehmend identisch mit dem Charakter sein, den sie in einem sozialen Online-Netzwerk annimmt. Die Vorstellung, was ein Avatar sei, hat sich von einer ikonischen und gepixelten Repräsentation des (realen oder imaginierten) physischen Ichs dahingehend gewandelt, dass der Avatar heutzutage nur noch eine von vielen virtuellen Schichten ist, auf denen die eigene Online-Präsenz basiert. Diese Online-Präsenz zeichnet sich durch ihre Vielschichtigkeit aus, die in der Online-Umgebung letztlich als ein Ganzes angesehen wird.

Online-Identitäten können in einer Art Taxonomie typisiert werden als: 1.) die reale Person; 2.) eine reale Person, die einen bekannten Charakter annimmt und seine Rolle spielt; 3.) eine Person, die einen plausiblen fiktiven Charakter entwickelt und spielt; und 4.) ein computergenerierter, autarker Charakter. Betrug ist in der Beschreibung oder der Nutzung eines Online-Profils so gängig wie die Projektion eines Begehrens oder eines Gefühls auf eine vernetzte Umgebung. Letzten Endes liegen der aktiven Konstruktion des „angereicherten Ichs“ bewusste und unbewusste Emotionen zugrunde. Das emotionale Potenzial, neue persönliche Beziehungen zu knüpfen oder alte Verbindungen wiederzubeleben, ist beispielsweise eines der kostbarsten Güter, das von den Betreibern sozialer Netzwerke an ihre Kunden verkauft wird. Es dreht sich jedoch nicht allein um die Emotionen und Begegnungen von Individuen. Es geht auch um die Verflechtung der verschiedenen Beziehungen, die sich in der Matrix ergeben, wo die lose verbundenen Teile des Ichs eingearbeitet werden. So „schreiben“ zum Beispiel Hunderte von Facebook-„Freunden“, gekoppelt mit ihren Offline-Freunden und den unzähligen anderen, die über weitere Plattformen verstreut sind, eine Art automatische Erzählung, die man sich jederzeit als „verhängnisvoll wunderbar“ vorstellen kann.

In diesem Sinne ist Paolo Cirios The Big Plot eine faszinierende, vielschichtige Erzählung, in der die Pfade der vier Protagonisten miteinander verknüpft werden. Die Details ihrer jeweiligen Biographien werden nicht durch kurze Beschreibungen oder Rückblenden etabliert, wie es in der üblichen kontinuierlichen Narration eines fiktionalen Textes der Fall ist, sondern sie sind über die verschiedenen Plattformen verteilt, und die entsprechenden Medien (Video, Bilder, Lebensläufe, Teilinformationen über persönliche Aktivitäten und so weiter) kommen angemessen zum Einsatz. Die Arbeit ist somit ein grundlegendes Experiment in der Entwicklung einer Narration aus Identitätsbruchstücken, die auf den jeweiligen Plattformen gefunden werden können. Es gibt derzeit kein Software-Tool, das die Zusammenfassung all dieser verschiedenen Datenmengen zu einem (lückenhaften) menschlichen Profil erlaubt, also ist die Rolle des Nutzers in der Arbeit sowohl strategisch angelegt als auch darauf, Informationen auf einzigartige Weise zu enthüllen. Darin besteht eine weitere Grundlage von Cirios Identitätsspiel: Der Betrachter muss die Einzelteile selbst miteinander in Verbindung bringen, vergleichbar einer tatsächlichen Datenrecherche oder klassischen „Detektivarbeit“. Je mehr Teile er betrachtet und kombiniert, umso mehr wird er mit seiner – fiktiven – Nähe zur jeweiligen Person beziehungsweise zu deren konstruierter Online-Präsenz belohnt. Je tiefer der Besucher gräbt, umso stärker wird er in die komplexe Narration verwickelt. Der große Unterschied ist, dass er hier nicht nur Seiten umblättert, um in der Lektüre voranzukommen, oder sich innerhalb einer bekannten Struktur in die gleiche Richtung klickt, um den eigenen Pfad zu einem von mehreren definierten Endpunkten zu wählen. Hier hingegen wird der Betrachter motiviert, sich dem Subjekt „investigativ“ mit Hilfe einiger weniger Anweisungen und Anhaltspunkte anzunähern. Das „investigative“ Narrativ stellt die zeitgenössische Wendung einer Erzähltechnik dar, deren Grundlage die vertraute Abfolge von Ereignissen ist.

Wenn man The Big Plot „liest“, begibt man sich ohne vorbestimmte Erwartungen selbst auf die Suche nach der Narration, unter Verwendung einer ganzen Reihe menschlicher Fähigkeiten – Intuition, Schlussfolgerungen, Verknüpfung von Fakten und Ähnlichkeiten –, während die tippende Hand durch die unsichtbare Hand des Künstlers geleitet wird. Cirio geht über das narrative Experiment hinaus. Er lässt zu, dass die Nutzer weitere Charaktere anlegen, die mit den von ihm geschaffenen in einer immersiven und komplexen Handlung interagieren: ein „Big Plot“, wie der Name der Arbeit bereits sagt. Das Öffnen der Handlung ist eine vielgenutzte literarische Technik, die allerdings üblicherweise einfach dazu dient, den Fokus auf die sorgsam entwickelte Haupterzählung etwas zu erweitern, damit der Leser sich in spielerischer Weise einbringen kann. Cirios Herangehensweise unterscheidet sich davon. In seiner Erzählung wird die Technik des „Alternative Reality Game“, des Spiels mit alternativen Realitäten, eingesetzt, bei der ein Teil der fiktionalen Erzählung aktiv im realen Leben eingebettet wird. Einige Gruppen enthusiastischer Nutzer folgen diesem Entwurf bereits. Letztendlich fügt sich diese „rekombinante Erzählung“ durchaus natürlich in unsere alltägliche Umgebung – voller multimedialisierter, multidimensionaler Ichs. Die Fiktion programmierbarer, leuchtender Pixel wird durch diese Injektion von Realität in die Bildschirm-Beziehungen ausbalanciert mit dem Fleisch der Realität – eine unwiderstehliche Allianz. Dadurch wird dem Ich Fluktuation – als ein festes Merkmal – hinzugefügt, was die Position des Individuums in der zeitgenössischen, medialisierten, sozialen Landschaft in mannigfaltiger Weise prägt. Die daraus entstehende Identität ist ein Konglomerat, eine vermeintliche Einheit, die potenziell in unglaublicher Geschwindigkeit zusammengesetzt werden kann und damit das generiert, was als „Mensch“ wahrgenommen wird. Und genau danach suchen unsere Primärinstinkte. Cirio setzt seine Fähigkeiten ein, um eine – im Wortsinne – Explosion des üblichen literarischen Unterfangens herbeizuführen. Die Beschreibung eines Charakters wird derart ätherisch, dass jegliche Manipulation möglich scheint. Die virtuellen Einzelteile sind einfach nur Daten, ihre Verbindungen sind lediglich (Hyper-)Links, und alle weiteren beteiligten Medien sind ebenfalls nur Daten. Es ist eine ganze Menge an Informationen, die zwar passend strukturiert sein müssen, aber potenziell unendlich rekombinierbar sind. Die endlos veränderlichen Charaktere, die zwischen Realität und Fiktion umhertreiben, unendlich reprogrammiert und mit realen Fakten und Daten rekombiniert, sorgen für ein Schwindelgefühl. Ins Extrem getrieben, könnte ein Prozess entstehen, durch den soziale Netzwerke mit menschenähnlichen Figuren bevölkert werden, die aus Identitätsbausteinen zusammengesetzt wurden. Dies basiert auf der Möglichkeit einer schnellen Rekombination von Daten mit einer glaubhaften, jedoch fiktiven Identität, die von Menschen zusammengestellt wurde. Die Figuren sollen die Netzwerke bevölkern, die physische Realität und deren Dynamiken reflektieren und zur Entstehung einer Online-Landschaft beitragen, die unsere zu erwartenden „Erweiterungen“ des täglichen Lebens einschließt. In The Big Plot wird dieses beängstigende Szenario entworfen mit dem Potenzial, tatsächlich verwirklicht zu werden. Es ist offen für den kollektiven Test – für alle, die eine einmalige künstlerische Arbeit genießen möchten.

Alessandro Ludovico

Paolo Cirio, The Big Plot

The Big Plot – werkleitz Festival .move 2009

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