México Afuera (Mexiko von außen)

Samstag
6.10.2012
19:00

Faszinosum Mexiko. Einerseits sind es die Ausgelassenheit, Lebenslust und Gastfreundlichkeit seiner Bewohner, die Farben und Gerüche der Märkte, die magischen Orte der Natur und die surreale Hauptstadt, die den ersten Eindruck des Besuchers dominieren. Andererseits scheint die brutale Einschreibung der Konquistadores eine blutrote Spur in das kollektive Gedächtnis des Landes zu ziehen. Eine Blutspur, die nicht abzureißen droht: Bestimmten bis zur Jahrtausendwende die Berichte und Bilder des Konflikts in Chiapas die Außenwahrnehmung, sind es seit 2006 die anhaltenden grausamen Massaker und Vormachtskämpfe der Kartelle, ausgelöst durch den sogenannten »Krieg gegen die Drogen«.↩

Der erste filmische Blick von außen ist daher der des mexikanischen Migranten – eine Perspektive, wie sie übrigens auch einige der Stipendiaten des EMARE MEX Programmes während ihres Europaaufenthaltes innegehabt haben könnten. Victor Orozco beendete sein Masterstudium 2012 bei dem Dokumentarfilmemacher Pepe Danquart an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg mit einem Animadokfilm – einem autobiografischen Animationsfilm, der auf der Situation des Studienaufenthaltes Orozcos beruht und den schmerzlichen Blick via Computerbildschirm auf sein Heimatland zeigt: Ein blutender, aus der Arena entfliehender Stier, dem er Flügel anmalt, die Erschießung eines Mitglieds des Zeta Drogenkartells, die verstreuten Leichen von Opfern eines Narco-Anschlags. Die Realität 2.0 der Internetstreams und YouTube Videos aus Mexiko wird wortwörtlich überzeichnet und damit zu einer schizophrenen Melange aus Emotion und Distanziertheit. Orozco zieht das Fazit: »In Mexiko scheint die Sonne immer noch am schönsten, aber dadurch verwesen die Toten schneller.«

Die Reihe der Künstler, die sich von Mexiko inspirieren ließen, dürfte endlos sein. Die drei folgenden Filme und Videos sind aktuelle Beispiele, die unterschiedliche Facetten mexikanischer Kultur in das Blickfeld rücken.

Seine Verwandlungsfähigkeit in seinen Filmen, die zwischen Hommage und Abrechnung mit der US-amerikanischen Popkultur – vor allem jener Hollywoods – changieren, ließen den in Berlin lebenden Videokünstler Bjørn Melhus in den letzten 15 Jahren zum Shooting Star der Kunstszene avancieren. In Hecho en México greift der anlässlich der Feier der 200-jährigen Unabhängigkeit Mexikos 2010 zu einem Stipendium eingeladene Künstler die zunehmende Militarisierung und Gewaltanspannung seines Gastgeberlandes auf. In populären Läden im historischen Zentrum von Mexiko-Stadt kaufte er sich Uniformierung und Spielzeugutensilien (para-)militärischer Eliteeinheiten. Der von Melhus dargestellte schwer bewaffnete Krieger streift hoch zu Ross durch den mexikanischen Wald, begleitet von spannungsschwangerer Musik. Die Szene, die Rambo 5 entstammen könnte, findet aber nicht zur üblichen Entladung in ejakulierendem Maschinengewehrgetöse, sondern bewegt sich in

einem fünfminütigen Loop, dem üblichen Format für Videoinstallationen. So wie sich Mexiko scheinbar in einer fortwährenden Schleife der Gewalt befindet, so wiederholen sich Posen und Gebaren des Kriegers, und er blickt durch sein Fernglas auf die Überreste der menschenentleerten Stadt bis zum Tag des jüngsten Gerichts.

Für die niederländische Meisterin der Punk-Animationscollage Martha Colburn sind Motive wie Totenschädel und Skelette ein oft wiederkehrendes Element ihres Œuvres. Sie collagiert Found Footage (gefundenes Material), arbeitet mit Stop-Motion wie beim Puppentrickfilm, malt auf Glas und kratzt und locht das 16mm-Filmmaterial um ihre an Pop Art erinnernden Animationen zu erstellen. Neben Punk- arbeitet sie gerne auch mit Jazzmusikern zusammen. Secrets of Mexuality, eine schnelle Animationscollage aus Aufnahmen von Luchadores (Wrestlern) und Kitschgemälden, unterlegt sie mit Musik des mexikanischen Avantgarde-Komponisten Felipe Waller. Sex, Gewalt und Tod bilden hier die Motive der mexikanischen Grundfesten, die in schneller Abfolge zitiert, zerschnitten, gescratcht und übermalt

werden. Den Luchadores als Urbildern des Machismo werden abwechselnd Genderattribute wie Brüste und erigierte Penisse eingeritzt, und wie schon in Reality 2.0 taucht der Stierkampf als ein zentrales Element iberoamerikanischer Macho-Kultur auf.

In soy mi madre überspitzt der britische Video-, Foto- und Performancekünstler Phil Collins (nicht der Musiker, aber in der Kunstszene ähnlich bekannt) die Motive der populären mexikanischen Telenovelas zu einem humorvollen Kondensat aller nur denkbaren Beziehungswendungen innerhalb einer großbürgerlichen mexikanischen Familie und ihres Personals. Das üppig ausgestattete und auf 16mm fotografierte Kammerspiel birst geradezu vor dramatisch-emotionalen Überraschungen und Plot Points. Patricia Reyes Spíndola, Gina Morett, Verónica Langer and Zaide Silvia Gutiérrez, allesamt bekannte Gesichter der täglichen Telenovelas, spielen mit Begeisterung jede Intrige und jeden Skandal aus und treiben damit ihr eigenes urmexikanisches Genre auf die Spitze. Damit verdeutlichen sie, »wie Gender und Klassenidentitäten in mexikanischen Soaps konstruiert werden, aber auch wie sehr Schauspieler dieses Genres austauschbar

sind«, wie Phil Collins in einem Interview preisgibt.

Peter Zorn

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