México Adentro (Mexiko von innen)

Samstag
6.10.2012
21:00

Das Programm beginnt mit La pintura contrataca: Colección Primavera / Verano 2012 von Adriana Lara, einem Videoclip für die neue Werbecampagne der Modemarke, die in der neuen Saison mit dem umwerfenden Foulard im Vintage-Style, dem Trendsetter des Frühjahrs, den Modemarkt erobert hat. Wir waren hin und weg. Für Adriana Lara sind kreatives Schaffen und subtile Ironie untrennbar verbunden. Der Titel, der ihr als Inspiration für diese Arbeit diente, stammt aus einem Artikel, der in einer der größten Zeitungen Mexikos erschienen ist. ↩

Er bezieht sich auf den Versuch einiger mexikanischer Kunsthändler, der Malerei wieder den zentralen Platz einzuräumen, der ihr einst als offizieller, institutioneller Kunst zustand und den sie verlor, als neue Formen des künstlerischen Ausdrucks aufkamen, darunter auch die der genannten Künstlerin. Selbstironie. Der Artikel impliziert jedoch einen weiteren wichtigen Aspekt dieses Themas, in Adrianas Film übersetzt in eine gemeinsame Kritik: Der Kunstmarkt bestimmt Trends, die sich vom theoretischen bzw. ideologischen Diskurs wegbewegen und dabei Reaktionen auf globaler Ebene auslösen. Die Folge ist die unweigerliche Freigabe und der Verlust der lokalen Identität – in der Kunst wie in der Modewelt. Der Film ist der zweite Teil eines Projektes, das im November 2011 mit einer Fashion Show / Performance in einer Galerie in Mexiko City begann. Bei beiden Gelegenheiten zeichnete Emilio Acevedo für die Musik verantwortlich, der vor einigen Jahren schon gemeinsam mit Adriana Lara an einem ziemlich respektlosen Projekt gearbeitet hat, an das sich viele sicher erinnern: Lasser Moderna.

Nuevo Dragón City behandelt das Thema Identität von einem völlig anderen und erstaunlicherweise einmaligen Blickwinkel aus. Wer würde in einem mexikanischen Video eine chinesische Gemeinde erwarten? Allerdings wird hier auf ein Ereignis Bezug genommen, das in den Lokalnachrichten Schlagzeilen machte. Eine Gruppe mexikanisch-chinesischer Teenager hatte sich in einem verlassenen Gebäude in Tijuana verbarrikadiert. Hier spiegelt sich eine vielfältigere Gesellschaft wider als in dem folkloristischen Einheitsbild, welches Mexiko im Ausland hat. Es ist eine hybride Welt, wie so viele andere Orte der Welt auch. Das Ereignis selbst wird in der Arbeit von Sergio de la Torre reproduziert. Sie zeigt die Reaktion der jungen Leute auf eine äußere Umgebung, von der sie sich freiwillig isolieren, weil sie sich irgendwie zurückgewiesen fühlen. Der Film porträtiert eine isolierte Gruppe von Menschen, die unfähig sind, ihre Identität an die Veränderungen der sozialen und historischen Umstände anzupassen.

Diese Gruppe wird zum Symbol für Grenzregionen ganz allgemein, hier dargestellt anhand von Tijuana an der Grenze zu den USA; ein Ort, an dem Mexikos Verhältnis zu seinem mächtigen nördlichen Nachbarn ein Dauerthema ist, welches gleichzeitig und paradoxerweise eine andere Macht ignoriert, die längst dabei ist, sich innerhalb der eigenen Grenzen zu entwickeln.

Fernando Palma Rodríguez ist Nahua und gehört damit einer Volksgruppe an, die in der mexikanischen Hauptstadt schon sehr früh ausgegrenzt wurde. Mit seiner Arbeit reagiert er auf den ständig wachsenden, homogenisierenden Kapitalismus, eine Reaktion, deren Ziel es ist, den ursprünglichen Stimmen der einheimischen Kultur Mut zu machen. In ihrem künstlerischen Diskurs bedienen sich politisch und ideologisch argumentierende kritische Stimmen der Folklore, um Lokalismus zu überwinden und mit einer globalen und technologischen Kultur zu verschmelzen (der Künstler hat ein technisches Studium absolviert), was einen neuen, ironisch aufgeladenen Mystizismus schafft. In Si no fuera por estos momentos verwandelt sich der Kojote,

ein Symbol der indigenen Kultur, in einen neuen Fetisch, ein Symbol dieser aggressiven postmodernen Evolution und einer noch zu definierenden Subkultur. Das Video aus dem Jahre 2000 besitzt eine Neunziger-Jahre-Ästhetik und eine seltsame Erzählstruktur, die sich aus kurzen Episoden und rituellen Tänzen zusammensetzt. Der Kojote und merkwürdige Robotergötzen, die sich durch die Stadt bewegen und die man an den heiligen Stätten einer präkolumbianischen Kultur findet, dienen als symbolische Elemente einer Kultur, die tief in der Vergangenheit verwurzelt ist und mit Leuten in Kontakt steht, die nichtsdestotrotz gewillt sind – oder gezwungen – an Verkehrskreuzungen Windschutzscheiben zu waschen.

Aus diesem Grund wandelt der neue Mutantengötze durch die Straßen der Stadt, dieselben Straßen, die wir auch in Sarah Minters Video finden, einer visuellen Symphony des Innenstadtbereichs von Mexiko City, von den Straßenverkäufern, die ihre Stände aufbauen, bis zur Interaktion der dort lebenden Menschen. Der Singsang der Stimmen und das repetitive Anpreisen der Waren verschmelzen mit dem Filmton und machen diese große Stadt erfahrbar. Street Symphony verstärkt die Geräusche

und Töne, die unsere alltäglichen Aktivitäten begleiten, und hebt ihre Besonderheiten hervor. Das vor einigen Jahren gedrehte Video sah das Verschwinden dieser Art von damals schon prekärem Leben auf den Straßen voraus. Für die Unterschicht stellt der ständig weniger werdende Straßenverkauf die einzig »legale« Alternative zur Arbeitslosigkeit dar, und das Video fordert in gewisser Weise ein Recht auf Nutzung der eigenen Straßen durch die Stadtbevölkerung. In einem Versuch, den Wahnsinn und die Enge dieser Megastädte wiederzugeben sowie die Energie und Intensität ihrer historischen Innenstadtbereiche, werden die Bilder wiederholt und fragmentiert.

Edgardo Aragón, dessen Arbeit diesen Teil des Programms beschließt, ist ein junger Künstler aus Oaxaca. Seine filmische Arbeit beschäftigt sich mit aktueller Politik, den Drogenkriegen, die das Land zugrunde richten, und mit den gesellschaftlichen Phänomenen, die Mexiko beeinflussen. Trotz der Ernsthaftigkeit seiner Themen gelingt es dem Künstler, zwischen den Ereignissen und den Betrachtern eine Distanz zu schaffen, indem er erstere in Theaterstücke und Inszenierungen übersetzt,

welche die komischen Aspekte der dargestellten Situationen zutage fördern. Matamoros ist die Geschichte eines alten Drogenschmugglers. Der Hauptdarsteller, Pedro Vázquez Reyes, schildert Treffen, Übergaben und bewaffnete Auseinandersetzungen im Detail und verleiht dabei jeder Figur ihre eigene Stimme, voller Wärme und Heiterkeit. Edgardo Aragón entscheidet sich dafür, die geschilderten Ereignisse im Film nachzuspielen, doch passen die Bilder nicht exakt zu den Worten, sodass zwischen der Geschichte und dem Publikum ein Raum entsteht, der die grauenvollen, fürchterlichen Anekdoten in eine entfernte, absurde Welt transponiert. Überraschend ist, dass die Geschichte auf einer Reise beruht, die der Vater des Künstlers tatsächlich unternommen hat, als er Drogen von Oaxaca über die USA nach Tamaulipas brachte. Dennoch ergeht kein moralisches Urteil, und die Bilder, mit denen er die Worte illustriert, schaffen es, eine parallel zur Geschichte verlaufende Reise zu kreieren, bei der das Majestätische der Landschaft einen Gegensatz zur Resignation ihrer Bewohner und dem Engagement bildet, das sie für ihr Überleben bringen.

Der folgende Film, Efemérides, ist ebenfalls von Edgardo

Aragón. Der Titel bezieht sich auf Jahresfeiern historischer Ereignisse mit patriotischer Bedeutung. Drei Personen lesen vor der Kamera gleichzeitig einen Text, was die Worte bedeutungslos erscheinen lässt. Die frontale Präsentation und der Soldat, der mit seiner Trompete das Ereignis eröffnet und beschließt, verstärken die Theatralik. Die wenigen Worte, die man erhaschen kann, verraten, dass es sich bei dem in einer informellen und vulgären Sprache verfassten Text um den öffentlichen Protest gegen Machtmissbrauch handelt. Der Titel selbst unterstreicht die Ironie: Die Forderung der Bürger wird von niemandem gehört, und die Regierung wird daraufhin nichts unternehmen. Das Ergebnis ist ziemlich lustig und absurd.

Die unterschiedlichen Filme spiegeln ein im Wandel befindliches Land und tun dies mit in jeder Hinsicht starken politischen Untertönen. In dem Bewusstsein, dass die Auswahl nur sehr limitiert sein kann, möchte dieses Programm dennoch Vielfalt präsentieren. Unabhängig von den Wegen, die ihre Macher eingeschlagen haben, teilen die Filme eine große Bandbreite an Forderungen und Standpunkten. Die Künstler reflektieren

ihr Land mit großem Respekt für die Traditionen, die es hervorgebracht haben, und verbergen dabei nicht immer ihren Sinn für beißende Ironie.

Eva Sangiorgi

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