Filmprogramm

Der Krieg, der bleibt

Samstag
16.10.2010
13:00

Der Krieg ist zurückgekehrt. Nach für Deutschland friedlichen und kriegsfreien Jahrzehnten ab 1945 sind Deutsche jetzt wieder im Krieg oder in kriegsähnlichen Einsätzen: Ex-Jugoslawien, Somalia, Afghanistan. Was jedoch geschieht mit den jungen Männern, die in den Krieg ziehen? Viele Werte, die in Friedenszeiten von Bedeutung sind, scheinen im Krieg umgekehrt. Gilt es im Zivilleben, jegliche Gefahr zu vermeiden, so werden Soldaten strikt darauf trainiert, sich bewusst in Lebensgefahr zu begeben; der militärische Drill dient vor allem dazu, den angeborenen Fluchtinstinkt zu unterdrücken. So wie das Töten im Zivilleben mit Höchststrafe bedroht wird, so ist es im Krieg Ziel des Handelns und wird unter Umständen mit Orden belohnt. Die tödlichen Waffen verleihen scheinbare Allmacht, die sich aber im Hinterhalt schnell in vollkommene Ohnmacht verwandeln kann. Diese Umkehrung der Werte und die extremen Gefahren, denen die Soldaten ausgesetzt sind, lassen auch diejenigen verändert aus dem Krieg zurückkommen, die ihn äußerlich unbeschadet überstehen. Die Folgen für die Individuen wie auch die Gesellschaft, in die sie zurückkehren, lassen sich schwer abschätzen. Nicht allen gelingt der doppelte Twist von Zivilleben zum Krieg und zurück. Manche sind für ihr ganzes Leben arbeitsunfähig, andere haben sich so an den Krieg gewöhnt, dass sie gar nicht mehr damit aufhören wollen. Sowohl der italienische Faschismus als auch der deutsche Nationalsozialismus (oder aktuell Al-Qaida) sind Bewegungen, die im wesentlichen von Veteranen getragen wurden.

Korpys/Löffler sind bekannt für ihre geduldigen, präzisen Beobachtungen politisch relevanter Prozesse. Sie eröffnen dem Betrachter neue Wahrnehmungsebenen besonders hinsichtlich des Verhältnisses von politischem Raum zu politischem Körper. In dem Gesang der Jünglinge dokumentieren sie eine spezielle Schulung von Polizisten, die sich zu Trainingszwecken mit Elektroimpulswaffen – sogenannten Tasern – beschießen lassen. Man sieht in den Gesichtern die mühsame Überwindung der Angst, den unterdrückten Fluchtreflex in Erwartung des Treffers und dann den Schmerz vor dem Zusammenbruch. Die dem zweiten Teil des Videos zugrunde liegende Komposition Gesang der Jünglinge (im Feuerofen) von Karlheinz Stockhausen ist ein zentrales Werk der elektronischen Musik in Verbindung mit der menschlichen Stimme und basiert auf der biblischen Geschichte, in der Nebukadnezar drei Männer ins Feuer werfen lässt, die dieses aber unbeschadet überstehen (Daniel 3:19f).

[peinliche Ordnung] basiert auf einer offiziellen schweizerischen Anleitung für den Guerillakrieg. Theo Ligthart selbst verliest in hartem Studiolicht ein Kapitel über das Verhalten unter Folter. Er wird dabei aber immer wieder von einer autoritären Stimme aus dem Off unterbrochen, worauf er sichtlich irritiert reagiert. So wird die Situation mehr und mehr peinlich (durchaus im ursprünglichen Wortsinne der Pein als Schmerz); das Setting der Aufnahme und der Inhalt des verlesenen Textes greifen ineinander.

Das Ausgangsmaterial für Thomas Gallers Week End sind YouTube-Clips, die in Afghanistan und im Irak stationierte US-Soldaten hochgeladen haben. Sie zeigen die merkwürdig anmutenden Freizeitrituale der Soldaten, die von mehr oder weniger scherzhafter Gewalt bis hin zu ebenfalls kameradschaftlich gemeinten Demütigungen geprägt sind. Wie Kinder scheinen die GIs – die ja tatsächlich fast noch Kinder sind – die täglich erlernten Grausamkeiten im Spiel zu wiederholen.

Das abstrakte Video Murphy von Bjørn Melhus simuliert mit seinen aggressiv flackernden Farbbildern und der ohrenbetäubenden Tonspur aus Kriegsfilmen eine offizielle Veteranenkrankheit: die Posttraumatische Belastungsstörung. Für wenige Minuten kann der Betrachter im Kino die visuelle und akustische Gewalttätigkeit des Krieges physisch spüren. Im Gegensatz zu den üblichen Kriegsfilmen, die dem Betrachter die Gefahr zwar zeigen, ihn aber dabei in Sicherheit belassen, beinhaltet Murphy ein – minimales – Moment „realer“ Gefahr: Bei empfindlichen Menschen kann der Flickereffekt einen epileptischen Anfall auslösen.

Bad Blue Boys von Branko Schmidt porträtiert einen kroatischen Veteranen, der dem Krieg nicht entkommen kann. Auf Grund seiner traumatischen Erlebnisse dauerhaft arbeitsunfähig, ist er vollkommen der Faszination der Waffen verfallen. Wenn er seine zahllosen Messer schleift, den Pulverdampf seiner Pistolen riecht oder mit Freunden Panzerabwehrgranaten im Wald abfeuert, nur dann ist er wirklich in seinem Element. Der Krieg scheint ihm zur emotionalen Heimat geworden sein. Der Protagonist lässt sich im Film nie voll filmen, auch erfährt man seinen Namen nicht. Dem Dreh hat er zugestimmt, weil er um seine eigene Gefährlichkeit weiß und vor sich selbst und seinen Kameraden warnen will. Branko Schmidt wiederum hat sich auf den schwierigen und in Konflikten auch nichtungefährlichen Film nur eingelassen, weil er Veteran desselben Krieges ist – als Kriegsberichterstatter.1

Marcel Schwierin


1 Diskussion mit dem Regisseur auf den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen 2008.

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  • Gesang der Jünglinge, Andree Korpys & Markus Löffler, Germany 2009, video, col, 15 min
  • [peinliche Ordnung], Theo Ligthart, Germany 2008, video, col, 13 min
  • Week End, Thomas Galler, Switzerland 2008, video, col, 17 min
  • Murphy, Bjørn Melhus, Germany 2008, HD, col, 4 min
  • Panj pun olova – Bad Blue Boys, Branko Schmidt, Croatia 2007, video, col, 28 min

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