As you wish

Dienstag
01.6.
 
 
Sonntag
17.10.2010

Hitchcock spielt mit den Möglichkeiten von Sprache, Angst auszulösen und als Mittel der Kontrolle zu missbrauchen.

Beim Betrachten der Kunst von Stephan Apicella-Hitchcock betritt man eine auf seltsame Weise verzerrte Zeitdimension zwischen Realität und Fiktion, in der der Künstler seine eigenen Reisen mit der Geschichte und Struktur des Films, der Kunst und mit Menschen und Orten verknüpft. Allein im vergangenen Jahr reiste er kreuz und quer über den Globus, von New York nach Kairo, Beirut, Tokio, Madrid, Berlin und Italien. An jedem dieser Orte entstand eine Arbeit, wurde ein Foto gemacht oder ein Souvenir gekauft. Ich bin ein Detektiv, der seinen Spuren folgt, sammle statische Bilder, anhand derer ich hoffe, den Lauf der Zeit wieder zusammenzufügen, und lese die Schriftstücke auf, die er – gleich einem Verbrecher, der seine Verfolger zum Narren halten will – hinterlassen hat.

Im Juni dieses Jahres wurde in Halle ein kryptischer Werbezettel verteilt, der den Anstoß für mein Schreiben gab. Der Text in der oberen Hälfte war voller Lücken, ähnlich wie beim „Mad Libs“ Improvisationsspiel, während in der unteren Hälfte halbe Antworten zu lesen waren: „Warning! Very soon a person will be coming to Germany/The Czech Republic from a foreign country through Madrid.” Ein paar Monate zuvor hatte Hitchcock der KUNSTrePUBLIK vorgeschlagen, für die Angst-Ausstellung eine Posterreihe herzustellen, die mit den von der Krise der Sozialsysteme, der lokalen Arbeitslosigkeit und der Auslagerung vieler Jobs ausgelösten Ängsten spielt. Auf dem Werbezettel hieß es weiter: „Foreign are often blamed for ____ during difficult economic times. (…) On that note does it help to ____ another artist?” Die Leerstellen scheinen zur persönlichen Reflexion aufzufordern: Wenn dieser Ausländer, vermutlich Hitchcock selbst, Halle zum ersten Mal besucht, welche Formen der Angst wird er vorfinden? Wird er in der Druckerei, bei der seine Poster gedruckt werden, auf fremdenfeindliche Vorurteile stoßen? Wird sein Projektvorschlag von vornherein durch seine Identität als ausländischer Arbeiter, Tourist oder importierter Künstler kompliziert? Wieso maßt er sich an, sich zum Sprachrohr lokaler Belange eines Ortes zu machen, an dem er nie gewesen ist?

Ein paar Monate später tauchen im Stadtraum vier Poster auf, die in auffälligen alten deutschen Lettern gedruckt sind. Das erste ist ein Poster von einem Poster – ein Filmstill aus Fritz Langs dramatischem Thriller M - Eine Stadt sucht einen Mörder, in dem Hans Beckert (gespielt von Peter Lorre), ein mordender Kinderschänder, in den Bildausschnitt tritt und einen Schatten über seinen eigenen Steckbrief wirft. Wenn das Poster tatsächlich von Hitchcock ist, folgt es der für ihn typischen Strategie, seinen eigenen persönlichen und künstlerischen Prozess innerhalb einer Filmhandlung stattfinden zu lassen.
Es mag zwar nicht ganz der Versuch eines Wells’schen (nicht-)fiktionalen Dramas sein, doch gibt er uns hier einen Vorgeschmack auf seine eigene kulturelle Forschung und präsentiert eine typographische Parallele zu den halleschen Straßenschildern.

Das nächste Poster, auf das ich aufmerksam werde, ist ein Kreuzworträtsel. Ich kritzle es rasch in mein Notizheft und nehme es mit in das nächste Café, wo ich es zu entziffern versuche. Die Antwort scheint meine Ahnung und Hitchcocks Ankündigung auf den Werbezetteln zu bestätigen: Ein Ausländer ist tatsächlich in die Stadt gekommen und hat Plakate über Angst aufgehängt! Das Poster direkt daneben präsentiert – in einem Buchstabenfeld versteckt – den Nachrichtenticker der örtlichen Polizei aus der Woche, in der Hitchcock in Halle war. Die hallesche Kriminalstatistik hat mit Beckerts Serienmorden wenig zu tun – sie zeichnet eher das Bild einer Arbeiterstadt mit verzweifelten oder jugendlichen Kriminellen, die Dinge wie Blumenerde und Heckenscheren klauen oder Briefkästen zerstören. Jedoch geht es in dem Spiel auf dem Poster nicht darum, die Täter aufzuspüren, sondern die Taten zu entdecken, und so schimmert dann doch ein Geist hindurch, der dem des Serienmörders Beckert und seiner Ankündigung der Morde in der Zeitung gleicht.

Auf einem vierten Poster, auch hier wieder in alten Lettern, lese ich etwas, das wie ein selbstreferentielles und kryptisches Geständnis klingt. Meine Hausaufgaben zu dem ersten Poster mache ich später am selben Abend, indem ich mir M – Eine Stadt sucht einen Mörder ansehe. Der Film ist nicht nur wegen seiner überzeugenden Geschichte so unheimlich, sondern wegen der Leichtigkeit, mit der die Bevölkerung sich in einen Mob verwandelt, nachdem ihre Angst, Paranoia und Selbstjustiz durch die Steckbriefe angestachelt wurden. Beckert entkommt den Behörden zunächst, wird aber schließlich von der örtlichen Mafia gefasst und von ihr vor Gericht gestellt. Während ich mir anschaue, wie ein wirrer Beckert vor diesem Scheingericht aus Kriminellen, die seinen Kopf wollen, mit angstgeweiteten Augen um sein Leben fleht, fallen mir die Worte von Hitchcocks letztem Poster ein: „Dann weiß ich von nichts mehr. Dann stehe ich vor einem Plakat und lese, was ich getan habe. Und lese und lese. Das habe ich getan?“
„Achtung! In Kürze wird eine Person aus einem fremden Land über Madrid nach Deutschland/in die Tschechische Republik einreisen.“
„Ausländische werden während ökonomischer Krisenzeiten oft für verantwortlich gemacht. (...) Hilft es in diesem Zusammenhang, einen anderen Künstler zu ?“

Daniel Seiple

Juni – Oktober 2010

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